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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Augenblick dachte ich, sie würde sie umarmen, aber dann tätschelte sie ihr nur ein wenig unbeholfen den Kopf, bevor sie ihre Arme wieder vor der Brust verkreuzte.
    »Du siehst hinreißend aus, Liebling.« Dann wandte sie sich mir zu.
    »Grace, würdest du dich um Himmels willen anziehen. Das Auto wird in zwanzig Minuten da sein, und Clare wird nicht zu spät in die Kirche kommen wollen.« Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen – keine Ahnung was -, aber sie war schon fort. Jane übernahm das Ruder.
    »Komm, Grace, ich helfe dir bei den Knöpfen.« Sie stand bereits am Bett und entfernte meterweise rosafarbenes Seidenpapier, das mein Kleid umhüllte.
    »Danke, Jane.« Ich war ihr wirklich dankbar. Clare ließ sich auf einem Stuhl nieder, der am Toilettentisch stand und brachte ihr Augen-Make-up in Ordnung. Eine verirrte Träne hinterließ eine Spur auf ihrer Wange und führte eine dünne Linie brauner Mascara mit sich. Ich fing ihren Blick im Spiegel auf, sie lächelte mir zu. Erleichtert lächelte ich zurück.
    »Grace, du musst dich vornüberbeugen. Ich komm nicht bis zu deinem Kopf hoch, um das Kleid darüberzuziehen«, bat Jane.
    »In diese Unterhose kann ich mich nicht vornüberbeugen, sie ist zu eng.«

    Am Ende stand Jane auf einem Stuhl und ließ das Kleid über meinen Kopf fallen.
    »Pass auf meine Frisur auf.« Vor lauter Panik klang meine Stimme scharf, durch den üppigen Stoff war sie jedoch nur gedämpft zu hören. Ungefähr Hundert Haarklammern – auf ein paar mehr oder weniger kommt’s nicht an – steckten in meinen Haaren und hielten sie fest, als würde es um ihr Leben gehen. Die Friseuse hatte sich heute Morgen eine Stunde lang mit meinen Haaren beschäftigt, und als sie fertig war, sah sie erschöpft, aber stolz aus – wie eine Mutter, die eben ein 4500 Gramm schweres Baby zur Welt gebracht hatte. Das Ganze konnte jederzeit in sich zusammenfallen, und mein wichtigstes Ziel war, dass das erst geschah, nachdem das Eheversprechen geleistet und die Fotos gemacht worden waren.
    »Steh still. Beweg dich nicht«, kommandierte Jane. Sie schaffte es, das Kleid über meinen Kopf zu ziehen, ohne auch nur eine einzige Haarklammer zu verschieben. Ich war beeindruckt, aber nicht überrascht. Sobald das Kleid einmal das Hindernis meiner Brüste bewältigt hatte, glitt es meinen Körper hinunter, ohne dass man ziehen und zerren musste.
    »Es passt!« Ich schlug mit der Faust in die Luft und legte einen kleinen Freudentanz à la Michael Flatley hin.
    »Natürlich passt es. Warum sollte es denn nicht?« Das kam von der siebenundfünfzig Kilo leichten Jane, die in ihrem ganzen dünnen Leben noch nie einen diätbedingten Panikanfall erlitten hatte.
    »Ich dachte nur, ich hätte während der Woche mit all dem Essen und Trinken und so ein paar Pfund zugelegt.«
    »Das denkst du immer«, sagte Clare. »Egal, hast du jedenfalls nicht. Du siehst toll aus.« Sie traten beide ein paar Schritte zurück und schauten mich an, als wäre ich
ein Ausstellungsstück in einem Museum, das sie regelmäßig besuchten.
    Jane machte einen Schmollmund. »Daneben werden wir wie verdammte Zwerge aussehen.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Könntest du nicht barfuß gehen? Das Kleid ist so lang, das merkt niemand.«
    Diese Diskussion hatten wir schon davor, viele Male.
    »Nein.« Clare sagte es mit Nachdruck. »Sie ist groß. Sie ist einfach eine große Frau.«
    »Ja, aber zu groß.« Jane war nicht bereit lockerzulassen.
    »Hey, hallo, ich stehe hier vor euch. Ich kann euch hören, selbst hier oben.« Wir kicherten wie Schulmädchen.
    »Grace, bist du jetzt fertig?«, vernahmen wir die Stimme unserer Mutter, ihr Tonfall war militärisch.
    »Ja, Mam«, antwortete ich, und wieder war es um uns geschehen. Wir hielten uns gegenseitig umklammert und lachten los.
    »Ich ziehe besser meine Schuhe an«, brachte ich endlich heraus.
    »Dein Atem klingt ein bisschen pfeifend. Vergiss nicht, dein Asthmaspray mitzunehmen«, ermahnte mich Jane, so mütterlich wie immer.
    »Nein, es geht mir bestens. Ich habe nur seit einer Stunde nicht mehr geraucht, das ist alles.« Ich begab mich auf Hände und Knie und suchte unter dem Bett nach meinen Schuhen. »Jane, wo hast du sie versteckt?«
    »Ich habe sie nicht versteckt. Ich habe einfach alle Schuhe in das … äh, leere Zimmer gelegt.« Stille machte sich breit. Das leere Zimmer. In diesem Haus hatte es nie ein leeres Zimmer gegeben. Es war ein Haus mit vier Schlafzimmern, und als wir alle

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