Tag vor einem Jahr
noch hier lebten, war jedes der Schlafzimmer mit uns und unseren Habseligkeiten vollgestopft. Eins für Mam und Dad – wir nannten es immer
Mams und Dads Zimmer, selbst noch lange Zeit, nachdem er gestorben war; eins für Jane, eins, das Clare und ich uns teilten, und eins für Patrick.
»Du meinst Patrick’s Zimmer.« Ich sprach mit leiser, ruhiger Stimme, entsetzt über die Wut, die in mir aufstieg. Wir hatten Patricks Zimmer noch lange Zeit, nachdem er von zu Hause ausgezogen war, »Patricks Zimmer« genannt, so wie wir das Arbeitszimmer »das blaue Zimmer« nannten, obwohl es bereits vor fünf Jahren in Giftgrün umgestrichen worden war. Man machte das so. Namen bleiben haften. Lebenslange Gewohnheiten waren schwer aufzugeben. An Patricks Zimmer war nichts Leeres. An Patrick oder seinem Leben war nichts Leeres. Er hatte ein Leben geführt, das voller Pläne, Unternehmungen und Lebendigkeit war, das er beständig bis zum Äußersten ausfüllte mit noch mehr Träumen und noch mehr Ideen. Sie würden jetzt alle nicht mehr verwirklicht werden. Ich hatte das getan. Ich hatte dieses ganze Leben genommen und in ein leeres Zimmer verwandelt. Ich musste raus hier, denn ich hatte Angst vor dem, was ich tun oder sagen würde.
Das Zimmer begann tatsächlich, wie ein leerstehendes Gästezimmer auszusehen. In einer Ecke hatte Onkel Paul aus Amerika seine Golftasche abgestellt. Eine Schachtel voll Papier fürs Recycling stand auf dem Boden herum. Das Bett war mit Hochzeitsgeschenken bedeckt, die wild aufeinandergetürmt waren. Es roch leicht muffig. Wie in einem alten Haus. Endlich entdeckte ich meine Schuhe und schnappte sie mir. Ich ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen und setzte mich im Flur auf den Boden. Die Tür zum Schlafzimmer war fest geschlossen, ich lehnte mich dagegen und machte die Augen zu. Ich war müde. Shanes Ankunft gestern Abend hatte mich durcheinandergebracht,
und meiner Meinung nach auch ihn. Er war nicht lange geblieben.
»Wir sehen uns morgen, Baby.« Er küsste mich flüchtig auf den Mund. Als er weg war, fühlte ich mich schlecht. Ich hatte nicht genug Aufhebens um ihn gemacht.
»Grace, was machst du hier draußen?«, fragte Mam. Sie musste die Treppen auf Zehenspitzen hochgekommen sein.
»Nur meine Schuhe holen.« Zum Beweis hielt ich die Sandalen an den Riemchen hoch.
»Ich verstehe nicht, warum du die Schuhe hier anziehen musst, Grace, denk an eins, heute ist -«
»Clares Tag. Ich weiß. Ich werde es nicht vergessen.« Ich sprach mit gesenktem Kopf und schob vorsichtig meine Füße in die Sandalen, die aus nichts weiter als Absätzen und spaghettidünnen Riemchen bestanden. Meine Wut war noch nicht verraucht. Sie machte mir Angst. Ich zog mich hoch, presste dabei meinen Rücken gegen die Schlafzimmertür. Als ich meinen Blick hob, begegnete ich ihrem und hielt ihm stand. Jetzt, wo ich Schuhe mit Absätzen anhatte und sie ihre flachen Schuhe, waren wir gleich groß. Ich wünschte, ich hätte gewusst, was ich sagen sollte, aber mir fiel nichts ein. Sie wandte sich als Erste ab.
»Kommt schon, Ladies«, rief ich zu meinen Schwestern hinein. »Los geht’s. Lasst uns Clare unter die Haube bringen.«
Hinter der geschlossenen Tür hörte ich das gedämpfte Lachen meiner Schwestern. Ich ging die steilen Treppen hinunter, meine Zehen verspannten sich bereits jetzt, und begab mich zum Wohnzimmer. Auf dem Teppich machten meine Absätze keine Geräusche. Mam stand bewegungslos mit dem Rücken zu mir neben der Anrichte. In den Händen hielt sie ein gerahmtes Foto. Das von Patrick und mir letzten Sommer in Spanien. Er war tot, bevor wir die Filmrolle entwickelt hatten. Ich hasste dieses Bild.
Wir stehen am Strand, an dem es passierte. Der Himmel ist von einem makellosen Blau, scheint sich endlos über unseren Köpfen zu erstrecken. Patrick sieht glücklich aus, wie ein Mensch, dessen Leben noch vor ihm liegt – voller Möglichkeiten. Aus diesem Grund fällt es mir schwer, dieses Bild anzuschauen. Caroline hatte es aufgenommen. Sie muss sich unmittelbar, bevor die Blende zuging, ein wenig bewegt haben. Es war nicht ganz scharf, sondern um die Ränder herum verschwommen, wodurch der Eindruck entstand, als würde die Zeit stillstehen. Patricks Arm liegt um meine Schultern. Eine große Welle bricht sich und rollt auf dem Strand aus, ihr Saum ist schaumig. Aus Gründen, nach denen ich nicht fragte, hatte Mam darauf bestanden, das Bild einzurahmen. Es war mein Mahnmal, erinnerte an meine Schuld,
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