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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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gegeben. Ein Kartenabend, den sie nicht absagen konnte. Ein Fußballspiel, das er sehen musste. Eine Migräne, die sich ankündigte. Ein früher Morgen. Eine späte Nacht.
    »Ich gehe nur schnell und bringe Shanes Sachen weg«, sagte ich und eilte zur Treppe.

    »Ich helfe dir«, sagte Mam und folgte mir. Einen Augenblick lang stand Shane in der Diele, bevor er in der Küche verschwand.
    Ich spürte sie hinter mir. Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich war ich in Patricks Zimmer. Es war kalt darin. Als ich mich umdrehte, stand sie da, die Hände in den Hüften, abwartend.
    »Entschuldige, Mam.« Es kam mir vor, als wäre das das Einzige, was ich überhaupt noch zu ihr sagte.
    »Grace, es macht mir nichts aus, deine Freunde hier zu haben.« Sie sagte »Freunde«, wie unsereiner vielleicht »Anakonda« sagen würde. »Mir wäre es nur lieb, wenn du es mich im Vorhinein wissen lassen würdest, das ist alles.« Wir standen im Dunkeln, im leeren Zimmer. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, als wollte er uns besänftigen.
    »Entschuldige«, sagte ich einmal mehr. »Ich wusste nicht, dass er heute Abend ankommen würde.«
    »Kommt er zur Hochzeit?«
    »Clare hat ihn eingeladen.« Verteidigungshaltung.
    Ich spürte den Luftzug, als sie sich zu mir beugte und mir die Kleider und Schuhe aus den Armen nahm. Als ihre Hand meinen Arm berührte, dachte ich, dass wir vielleicht miteinander sprechen könnten, hier in Patricks Zimmer.
    »Mam?«
    Aber sie war fort, und obwohl sie kein Geräusch machte, wusste ich, dass sie an der Tür zur Heißmangel stand, seine Kleider faltete und sie auf die Ablage legte. Ich verließ das Zimmer und ging an ihr vorbei die Treppe hinunter.

44
    Der erste grässliche Zwischenfall ereignete sich um 12 Uhr 40. Hinsichtlich der Uhrzeit bin ich mir ganz sicher. Ich starrte intensiv auf die Zeiger der Küchenuhr und konzentrierte mich darauf, nicht zu weinen. Aus diesem Grund weiß ich es ganz genau. Wir befanden uns noch immer im Haus meiner Mutter, denn wir waren dort über Nacht geblieben. Clare, Jane, Mam und ich. Vier Frauen unter einem Dach. Das ist nie eine gute Idee. Die Tatsache, dass wir eng miteinander verwandt waren, machte es noch schlimmer. Ein Sack voll launischer Katzen. Patricks Abwesenheit stand deutlich im Raum, und wir bewegten uns drum herum. Die Leere, die Dad hinterlassen hatte, war nach all den Jahren nicht mehr so sehr zu spüren, war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Nur die Frauen waren übrig geblieben. Wir harrten aus.
    Auslöser war ein Knoten in Mams Halskette. Es handelte sich um eine jener Ketten, die Juweliere als »zierlich« bezeichnen. Ein silberner Mond hing daran. Dad hatte sie ihr zur Hochzeit geschenkt. Sie hatte die Kette aus den Tiefen ihres Schmuckkastens hervorgeholt, und Knoten an Knoten reihte sich aneinander. In dieser Situation rief sie seinen Namen. Sie warf dabei ihren Kopf zurück und wendete sich Richtung Treppe. Unbeschwert. So wie sie es immer getan hatte.
    »Paaa…trick.«
    Es klang so natürlich, so normal. Einen Augenblick lang
erwartete ich, ihn auf der Treppe zu hören, wie immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er war der Knotenexperte in unserem Haushalt. Es gibt immer einen, oder nicht? Einen, der geduldig ist, lange Finger hat und Augen scharf wie ein Luchs. Patrick war unsrer. Schnürsenkel, Hüpfseile, Gummis, fest um Haarsträhnen von Puppen gewickelt, die hart und verfilzt waren. Ich sah ihn dort auf der Couch sitzen, den Kopf seinem Auftrag zugewandt, behutsame Finger, die Goldfäden auseinanderpflückten, bis sie vollkommen gerade über seinem Schoß lagen. Nur dass er nicht da war. Mams Mund war noch leicht geöffnet. Ihr Gesicht zu sehen, tat weh. Es war schon so lange her, dass sie zuletzt nach ihm gerufen hatte. Keine von uns wusste, was sie sagen sollte. Ich sprang ein.
    »Komm, ich mach’s.«
    »Du kannst das nicht.« Mam erholte sich schnell.
    »Hast du eine andere Kette, die du tragen kannst?« Jane war wie immer die Praktische. Meine Mutter sah Jane an, wie ein Kind vielleicht seine Mutter ansieht.
    »Ich will diese hier.« Sie flüsterte. Jane nickte, nahm ihr die Kette aus der Hand und machte sich am Küchentisch an die Arbeit. Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Meine Augen brannten.
    »Kannst du gehen und nach Clare sehen?« Mam stand von der Couch auf und sah mich demonstrativ an. Ich schluckte schwer.
    »Sicher, ich schaue nach, ob sie Hilfe braucht.« Ich sah sie nicht an, meine Augen starrten stattdessen

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