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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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auf. Das war Clares Tag, Clares Tag, Clares Tag. Der Altar schien so weit weg zu sein. Da war Tante Joan, sie zählte ihre Münzen, die sich in den Winkeln des kleinsten Geldbeutels, den ich je gesehen hatte, versteckten. Onkel Malachy musste einen Krampf im Hals haben von all den Versuchen, einen Blick hineinzuwerfen. Und da war Granny Mary, ein Grashalm im Wind, vornübergebeugt, aber dabei so würdevoll. Sie funkelte mich an, und dann streckte sie mir die Zunge heraus, eine lange, dünne Zunge, so lang und dünn wie sie selbst. Sie grinste, und hätte sie sich nicht in einer Kirche befunden, hätte sie laut gegackert.
    Auf halbem Weg. Ich konnte den Priester in seiner Soutane sehen, ein Großcousin oder etwas in der Art von meinem Vater. Er sah sehr jung aus und wirkte, während er uns auf sich zukommen sah, auch ein bisschen ängstlich. Ich lächelte ihm zu. Jetzt wirkte er außer sich vor Angst. Er trat einen Schritt zurück und stolperte über einen Ministranten, der höchstens neun oder zehn Jahre alt sein konnte. Sie fielen nicht hin, was eigentlich der Fall hätte sein müssen, doch sie wichen sich gegenseitig in einem bizarren Tanz aus, der mehrere Sekunden dauerte. Ich wandte den Blick ab, und machte mir im Geiste die Notiz, nie wieder den Priester anzustarren.
    Dann waren wir da. Unsere Hände lösten sich voneinander, und wir segelten, wie man uns instruiert hatte, zu beiden Seiten davon. Musik setzte ein. Der »Hochzeitsmarsch« – wird er so genannt? Alle Augen wendeten sich
von uns ab und das Mittelschiff hinunter zum Portal. Ich sah viele Hinterköpfe, die der Männer mit schütter werdendem Haar, die der Frauen mit gepflegtem, geglättetem und hochgestecktem Haar.
    Komisch, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen, wenn man beobachtet, wie die eigene kleine Schwester ein großes Kirchenschiff entlangschreitet, untergehakt bei der Mutter, die sich nur an dieser Stelle befand, weil jeder andere sich aus dem Staub gemacht und gestorben war und sie mit dieser Aufgabe alleingelassen hatte. Sie genoss es nicht, obwohl das wahrscheinlich keinem außer mir und meinen Schwestern auffiel. Kaum hatte ich das bei mir gedacht, war ich mir schon nicht mehr sicher, ob Clare es gemerkt hatte. Sie hatte nur Augen für Richard, und mir fiel er jetzt zum ersten Mal auf: in einem dunkelblauen Anzug mit blendend weißem Hemd. Seine Krawatte sagte alles – in heiterem Goldton, übersät mit einem winzig kleinen, goldenen Amor nach dem anderen, von denen jeder in seinem gespannten Bogen einen Pfeil abschussbereit hielt und damit auf Clare zeigte. Nicht, dass es notwendig gewesen wäre. Sie segelte auf Richard zu wie ein Schiff auf den Hafen. Mam kam zuerst bei ihm an und küsste ihn auf die Wange. Er umarmte sie sanft, und ich konnte sehen, wie sein Mund das Wort »Danke« formte. Mam führte Clare zu ihm, trat dann zurück und ging zu ihrem Platz neben Mary in der vorderen Kirchenbank. Sie weinte nicht. Sie lächelte: ein tapferes Lächeln. Ich war stolz auf sie und wünschte mir, es ihr sagen zu können. Ich fing ihren Blick auf und zwinkerte ihr stattdessen zu, wandte mich aber schnell wieder zum Altar, noch bevor ich ihre Reaktion sehen konnte.
    Jeder sagte, die Trauung sei »wunderschön« gewesen. Clare weinte, als Richard ihr den schmalen goldenen Ring über ihren kleinen Fingerknöchel schob. Richards Stimme
stockte, als er ihr versprach, sie zu lieben und zu ehren, in guten wie in schlechten Tagen, in Gesundheit wie in Krankheit. Ich hörte mir ihr Eheversprechen an, richtig an. Es bewegte mich, war es doch eine große Aufgabe: In Gesundheit, das war in Ordnung. Aber auch in Krankheit? Und sie leisteten das Versprechen so mühelos. Sie meinten es so. Mir wurde bewusst, dass ein Teil von Clare in diesem Augenblick für mich verlorengegangen war. Er gehörte Richard. Das war ihr Geschenk an ihn. Aber ich fühlte mich nicht traurig. In diesem Augenblick schwamm ich in einem Meer voller Liebe, einem Ozean. Da gab es keinen Raum für Zynismus. Hier standen zwei Menschen und versprachen sich einander. Für immer. Es war wie ein Zauber.
    Dann war alles vorbei, und die Kirchenglocken ertönten, ihr Chor erschallte bis hinunter ins Dorf Raheny und verärgerte all diejenigen, die versuchten, das Spiel im Pub »The Station House« anzuschauen (Tipperary gegen Cork; im Übrigen verlor Tipperary, nur falls das jemanden interessiert). Wir strömten aus der Kirche, eine Ansammlung von Menschen in leuchtenden Farben und mit

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