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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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wurden sichtbar, und noch bevor ich ein Gesicht sah, wusste ich, wer es war. Shane. Mein Magen machte einen Sprung, und ich fühlte mich zugleich schwindlig und hungrig. In seiner Gegenwart war ich immer hungrig, als wüsste ich, dass das, was er mir zugestand, niemals genug sein würde. Er richtete sich zu voller Größe auf, und die Sonne glitzerte auf seinem blonden Haar. Alle vier zwinkerten wir mit den Augen, als wir ihn sahen.
    »Er sieht gut aus.« Das kam in beiläufigem Ton von Jane.
    »Diese Farben stehen ihm wunderbar.« Clares Beitrag. Und sie hatte Recht. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit einem blassgelben Hemd, das fast dieselbe Schattierung hatte wie sein Haar.
    Er stand wartend da und wurde, das war natürlich klar,
innerhalb von Sekunden umringt. Ich glaube, es waren die Kinder von Dads Geschwistern – natürlich alles Mädchen.
    »Wenigstens ist er pünktlich«, warf Mam nach einer Weile ein, als wäre das das Netteste, was ihr zum ihm einfiel.
    Clare war in Fahrt gekommen.
    »Und da kommt Caroline. Sie sieht toll aus.« Clares Kopf reckte sich, als sie ihr Publikum in Augenschein nahm.
    »Wer ist dieser Mann in ihrer Begleitung? Er sieht aus wie Robert Redford mit wilderen Haaren. Oh mein Gott, er sieht wundervoll aus.« Und das von der vernünftigen dreifachen Mutter auf dem Rücksitz.
    »Guter Gott, er ist wirklich sehr elegant.« Meine Mutter setzte sich plötzlich aufrecht hin und tastete unbewusst mit den Fingern nach ihrem dichten, kurzen Bob. »Carolines Freunde sind immer so schön anzusehen.«
    »Das ist Bernard O’Malley«, sagte ich, ohne hinzusehen. Wäre ein Mond am Himmel gewesen, hätte ich ihn vielleicht angeheult. Glücklicherweise schien überall die Sonne. Ich sah auf meine Armbanduhr.
    »Zeit zu fahren. Es ist zwei Uhr.« Ich war erleichtert.
    »Warte«, sagte Clare.
    »Auf was denn?«, fragte Mam, die bereits die Hand am Türgriff hatte.
    »Nur … wartet nur eine Minute. Irgendjemand muss etwas sagen. Etwas Wichtiges. Etwas, an das ich mich erinnern werde, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Etwas Bedeutungsvolles.« Clare sah uns der Reihe nach erwartungsvoll an. Alle schwiegen.
    »Was hätte Dad mir gesagt?« Clare wandte sich verzweifelt an unsere Mutter.
    Meine Mutter sprach langsam.
    »Er hätte gesagt: ›Wann gibt es endlich was zu essen?

    Ich bin verdammt nochmal am verhungern.‹« Meine Mutter trug diese Sätze mit todernstem Gesicht vor, und wir lachten den ganzen Weg zur Kirche, bis uns alles wehtat.
    Als die vor der Kirche wartende Menge den Brautwagen vor den Toren halten sah, verschwand sie schneller als kostenlose Proben in einer Parfümerie. Alles, was auf dem sich leerenden Vorplatz übrig blieb, waren halbgerauchte Zigaretten, die noch vor sich hin glimmten. Während wir uns sammelten und aus dem Auto stiegen, schien es, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Wir mussten vorsichtig sein, Clares Schleier war lang. So lang wie ein Sommertag.
    »Ich parke vor der Kirchentür und warte auf Sie, richtig?« An diesem stillen Ort wirkte Milos Stimme sehr laut. »Viel Glück Ihnen allen«, fügte er in würdevollerem Tonfall hinzu, nachdem ihm wohl plötzlich aufgefallen war, dass er der einzige Mann unter uns war. Ich hielt Clares Hand. Sie lag klein und kalt in meiner.
    »Denk dran, zu gehen und nicht zu stolzieren«, zischte mir meine Mutter zu. Und dann schritten Jane und ich langsam das Mittelschiff entlang, mit breitem Lächeln auf unseren Gesichtern. Wir nickten den Reihen von Köpfen zu, die sich uns von den Kirchenbänken aus zuneigten, und hielten uns an den Händen. Sehr fest, obwohl wir das bei der Probe nicht gemacht hatten, aber es fühlte sich gut an. Meine Augen überflogen die Menge. Ich sah, wie sich Bernard zu Caroline hinabbeugte, als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er lächelte auf seine zurückhaltende Art, und hob den Kopf. Als er mich ansah, fühlte ich mich wie eins zweiundachtzig groß (um bei der Wahrheit zu bleiben, ich war eins zweiundachtzig groß) und gleichzeitig verletzbar – so als würde ich das Kirchenschiff nackt entlanggehen (ein wiederkehrender Alptraum, den ich oft habe, nachdem ich
eine Portion Taco Fries verschlungen habe). Ich sah zuerst weg. Auf der anderen Seite von Caroline saß Shane, er fuhr mit seiner Hand durch seine Haare. Er zwinkerte und warf mir eine Kusshand zu, seine Lippen waren rosafarben und geschürzt wie eine Pfingstrosenknospe. Ich lächelte nach wie vor, ich hörte nie zu lächeln

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