Tag vor einem Jahr
mich an. Caroline winkte uns zu, als sich die Aufzugtüren schlossen.
Sofort warf Shane sich auf mich, drückte mich gegen die Wand, seine Finger tasteten nach einem Reißverschluss. Ich konnte ihm nicht sagen, dass es keinen Reißverschluss gab, sondern nur unzählige winzige Knöpfchen, die unter einer Stoffblende verborgen waren und sich den ganzen Rücken hinunterzogen. Ich konnte es ihm nicht sagen, weil er gerade seine Zunge in meinen Mund geschoben hatte, und ich konnte es ihm vor allem nicht sagen, weil ich gerade nachdachte. Man sagt ja, dass bei Menschen, die unmittelbar vor ihrem Tod stehen, Bruchstücke ihres Lebens vor den Augen aufblitzen. In diesem Augenblick, in dem mein Hintern gegen einen metallenen Handlauf gequetscht wurde und mein Rücken an einen kalten, klaren Spiegel gepresst fror, spulten sich hinter meinen
geschlossenen Augen Bruchstücke unseres Lebens ab. Es war, als würde ich einen Film im Schnellvorlauf sehen. Seltsamerweise nicht die Höhen und Tiefen. Nur Fragmente, Kleinigkeiten. Ihn, wie er mir am Samstagabend die Haare glättete, vor allem weil ich selbst zu lang dazu brauchte. Er kannte sich mit Glätteisen aus. Mich, wie ich am Heuston-Bahnhof auf seinen Zug wartete und dabei in dem schneidenden Wind, der den Bahnsteig herunterwehte, zitterte. Er, wie er Champagner in die Vertiefung meines Bauchnabels schüttete und ihn mit lautem Schlürfen austrank, so dass ich vor Lachen aus dem Bett fiel. Er lachte nach einer Weile ebenfalls. Den Pashmina-Schal, den er mir zum Geburtstag schenkte. Leuchtend orange wie ein Sonnenuntergang. Seine Haare, nass von der Dusche, mit dem Duft nach frischen Limonen. Die weißglühende Sonne in Spanien. Die Höhe der Wellen. Er, wie er vor dem Leichenschauhaus weinte, die Hände zu Fäusten geballt und an die Augen gepresst in dem Versuch aufzuhören.
Während dieses Gedankenstroms hatte Shane noch immer nicht die verdeckte Knopfleiste an meinem Kleid gefunden. Ich legte ihm meine Hände auf die Schultern und drückte ihn von mir weg.
»Shane, du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Hm?« Seine Hände tasteten noch immer an mir entlang. Er konnte nicht glauben, dass es ihm nicht gelingen wollte, mein Kleid zu öffnen. Offen gesagt, ich konnte es auch nicht.
»Shane?« Ich entwand mich seinem Griff und trat ein Stück zur Seite.
»Was?« Er richtete seinen Blick auf mich und stellte fest, dass ich nicht mehr da war, wo ich eigentlich hätte sein sollen.
»Warum bist du heute gekommen?«
»Das ist eine eigenartige Frage. Die Antwort ist doch offensichtlich, oder?«
»Bitte … sag es mir einfach nur.« Ich schaute über seinem Kopf hinweg auf die Anzeigentafel über der Aufzugtür. Wir waren im zweiten Stock, auf dem Weg nach oben.
»Natürlich um dich zu sehen. Und um meine Pläne mit dir zu besprechen. Du weißt, warum.« Er wirkte verwirrt. Ich wäre überall lieber gewesen als hier. Aber ich ließ nicht locker. Es war an der Zeit.
»Ja, aber warum wolltest du das alles nicht schon vorher? Mich sehen? Und über Pläne sprechen? Was hat sich geändert?« Ich wartete. Jetzt waren wir im dritten Stock.
»Nichts, Baby, nichts hat sich geändert.« Shanes Stimme war weich und überzeugend, und für einen Augenblick ließ ich mich davon besänftigen. An seiner Sonnenseite fühlte es sich immer warm an.
Wir hielten mit einem Ruck im vierten Stock, und die Türen glitten auf. Onkel Malachy stand schwankend da. Er lächelte, als er uns sah, und trat herein. Shane reichte er gerade bis zum Ellbogen.
»Schschööne Hochzeit«, sagte er, um eine Unterhaltung in Gang zu setzten. Plötzlich tat es mir leid, dass er mit Tante Joan verheiratet war. Er musste sich sein Vergnügen suchen, wo immer es ging, und wenn das auf dem Boden einer Flasche Whiskey war, dann war es eben so. Und wenn diese Flasche Whiskey nichts kostete, dann umso besser.
»Ich waaar in der Pianobar«, fuhr er fort. Ich war überrascht. Es gab wirklich eine Pianobar?
Aus irgendeinem Grund stolperte er im dritten Stock hinaus, und wir waren wieder allein. Der Aufzug fuhr jetzt nach unten.
»Grace, warum verhältst du dich mir gegenüber so seltsam?« Mit den großen Augen und den ins Gesicht fallenden
Haaren sah er aus wie ein Erstklässler an seinem ersten Schultag. Er war wirklich appetitlich anzusehen. Wäre er ein Nahrungsmittel gewesen, dann ein Hummer: exotisch, beeindruckend, schwierig zu handhaben.
Doch seine Verwirrung war aufschlussreich: Er wusste wirklich nicht,
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