Tag vor einem Jahr
was mit mir nicht stimmte, und es war jetzt nicht an der Zeit, ihn darüber aufzuklären. Heute war Clares Tag – Himmel, selbst ich sagte das jetzt schon. Ich atmete tief durch und wusste nicht, was ich entgegnen sollte. Das schrille »Ping« des Aufzugs rettete mich. Wir befanden uns im Erdgeschoss, und der Lärm der Band, die ihre Instrumente stimmte, schlugen uns entgegen.
»Shane, hör zu, es tut mir leid. Ich muss gehen. In ein paar Minuten muss ich mit dem Trauzeugen tanzen.« Shanes Mund stand offen, seine Gesichtszüge waren erschlafft. Er würde die Falten, die sich um sein Kinn bildeten, wenn er entsetzt aussah, verabscheuen. Ich verließ den Aufzug rückwärts und fuhr damit fort, mich zu entschuldigen.
»Ich bin in fünf Minuten wieder frei, dann holen wir das nach, in Ordnung?«
»Und was soll ich damit machen?« Er zeigte auf den Schritt seiner Hose, als sich eben die Aufzugtüren schlossen. Der Reißverschluss wölbte sich, als wäre er kurz vorm Zerreißen.
Aus irgendeinem Grund war mir zum Lachen zumute, aber lautes Vor-sich-hin-Lachen, wenn man allein ist, ist in unserer Kultur verpönt. Also tat ich es nicht.
Als ich im Ballsaal ankam, lag die Bühne verlassen da.
»Wo ist die Band?«, fragte ich Richard, der versuchte, sein Smokingjackett zu finden. Es wäre leichter gewesen, eine legende Henne in einem Fuchsbau zu finden. Über jeder Lehne der im Raum befindlichen Stühle hingen Smokingjacketts – alle sahen sie gleich aus.
»Sie macht eine Pause«, antwortete Richard, der eben ein fremdes Jackett so sorgfältig über einen Stuhl zurückhängte, als wäre es sein eigenes.
»Eine Pause? Aber sie haben eben erst mit dem Stimmen angefangen«, bemerkte ich.
»Gewerkschaftsvorschrift oder so etwas.« Richard fürchtete sich vor dem ersten Tanz (Clare hatte ihn gezwungen, Samba zu lernen). Wahrscheinlich hatte er sie dafür bezahlt, dass sie verschwanden.
Allmählich trafen die Abendgäste ein. Durch das Fenster des Ballsaals sah ich ein Taxi vorfahren, aus dem sich meine Bande von der Arbeit wie Wein aus einer umgedrehten Flasche ergoss. Laura, Peter, Norman, Ethan und Jennifer. Ciaran und Michael konnten nicht. Sie waren auf dem Elton-John-Konzert in London. Caroline lief hinaus, um sie zu empfangen, es wurden so viele Küsschen auf Wangen verteilt und Rücken so herzlich geklopft, als hätten sie sich seit Monaten nicht mehr gesehen. Laura und Peter waren unzertrennlich: Es war nur schwer festzustellen, wo der eine aufhörte und der andere anfing. Ethan schaute, obwohl er ein Outfit von Boyers trug, absolut annehmbar und fast glücklich aus, als er von Norman und Jennifer zur Bar gezogen wurde.
Ich fühlte mich wie eine Biene in einem verschlossenen Marmeladetopf und ließ mich auf ein Fensterbrett sinken. Meine Füße brachten mich um. Vielleicht konnte ich wenigstens für einen kurzen Augenblick dort sitzen bleiben. Dann würde ich gehen und mich um alles kümmern. Ich wusste, dass es etwas gab, was ich zu erledigen hatte. Etwas, um das Mam mich gebeten hatte, oder war es Clare gewesen?
Ich fragte mich, wo Bernard war. Wenn ich an ihn dachte, hatte er wieder seine abgetragene braune Strickweste an
und seine uralten, grauen Jeans, die ihm zu kurz waren, dazu diese Schuhe mit den ausgefransten Schnürsenkeln, deren Absätze bis auf die Sohle abgelaufen waren.
»Grace, wieso sitzt du hier herum und schmunzelst so dämlich vor dich hin?« Es war Caroline, die mich am Arm zog.
»Ich habe nicht geschmunzelt.« Mein Schuldgefühl trieb mich in die Defensive wie eine nervöse Katze.
»Das hast du. Du hast ausgesehen wie ein Kind aus der Billy-Barry-Bühnenschule.«
»Hast du Mam gesehen?«, wollte ich wissen. »Oder Clare?«
»Nein, warum?«
»Ich glaube, eine von ihnen hat mich gebeten, etwas zu erledigen, und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was es war.«
»Ach, mach dir darüber keine Sorgen.« Caroline sagte es mit dem Zutrauen eines Menschen, der den größten Teil des Nachmittags die Champagnervorräte dezimiert hatte.
»Allerdings habe ich Shane gesehen. Er steuerte auf die Männertoilette zu und sah ein bisschen durcheinander aus, um ehrlich zu sein.«
»Ich denke, er hat Blähungen.« Ich hatte keine Ahnung, warum ich das sagte. Caroline hatte mich entweder nicht verstanden oder war nicht interessiert. Sie setzte sich neben mich, ihr dünner Hintern war zwischen mir und der Wand eingezwängt, und sie sprach in konspirativem Tonfall.
»Hast du Bernard in seinem
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