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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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sagte mit erstickter Stimme: »Nett, dich kennenzulernen. Caroline hat mir einige wirklich schreckliche Sachen über dich erzählt.«
    »Oh, du bist also Grace? Caroline hat mir nie gesagt, dass du so schön bist.«
    Caroline schnaubte.
    »Lass sie in Ruhe, Shane. Bring mich nicht dazu, dir
nochmal wehzutun.« Noch immer völlig aus dem Konzept gebracht von Shanes beiläufig fallengelassener Bemerkung über meine Schönheit – hallo?! meine Schönheit! -, entgegnete ich gar nichts. Shane setzte sich neben Caroline, die ihm den Ellbogen in die Rippen stieß. Er stieß zurück. Als Kinder hatten sie ihre Mutter bestimmt zum Wahnsinn getrieben. Jetzt nahm er ihre Zeitschrift und las mit betont amerikanischem Akzent aus der Kummerkasten-Rubrik vor.
    »Liebe Angie.« Er zog die Worte lang wie Kaugummi. »Mein Freund hat mit meiner besten Freundin geschlafen, aber es tut ihm echt richtig, richtig leid.«
    »Gib sie mir.« Caroline zerrte ihm das Magazin aus den Händen und zerriss dabei die Seite. »Himmel, was bist du für ein Kind. Wenigstens hast du nur einen Bruder, Grace, und der ist normal.«
    »Patrick? Ich würde ihn nicht unbedingt als ›normal‹ bezeichnen. Ich meine, er ist immerhin der einzige eins dreiundachtzig große Rotschopf, den ich kenne, der Geige spielt und am Freitagabend gerne ins Ballett geht.«
    »Oh, dann ist er also ein bisschen schwul?« Shane spreizte geziert die Finger ab und spitzte die Lippen.
    »Das solltest du besser Caroline fragen.« Ich nahm Caroline mit einem anzüglichen Lächeln ins Visier. Sie und Patrick gingen manchmal miteinander aus, und Caroline kam von solchen Nächten nicht immer nach Hause. Caroline hielt meinem Blick stand und überging meine Äußerung.
    »Was machst du eigentlich hier?«, fragte sie, als sie es müde geworden war, ihn körperlich zu attackieren.
    »Also«, setzte er mit extremem Cork-Akzent an und begann mit einer Geschichte über einen Kumpel namens Mossy, der ihn von Dublin aus mitgenommen hatte. Ursprünglich
war geplant gewesen, dass sie gemeinsam nach Cork fahren würden. Kurz nach Dublin gabelte Mossy (sein richtiger Name war offenbar Maurice Fitzgerald) eine Anhalterin namens Bridget auf. Bridget entwickelte während der zweistündigen Fahrt, die es brauchte, um sie an ihr gewünschtes Ziel zu bringen, eine, nennen wir es mal Zuneigung zu besagtem Mossy und überredete ihn, mit ihr das Wochenende zu verbringen. Es bedurfte nicht viel, um Mossy zu überreden: Er hatte in letzter Zeit nicht sehr viel Glück mit den Frauen gehabt, was in erster Linie auf den Ausbruch einer postpubertären Akne zurückzuführen war, die sich über große Teile seines Gesichts und Halses ausgebreitet hatte. Bridget, die, wie sich herausstellte, ein äußerst spirituell veranlagter Mensch war, sagte Mossy, dass er eine warme und tiefgründige Aura besitze. Sie könne mit Bestimmtheit sagen, dass er ein guter Mensch sei. Mossy, der sich fest vorgenommen hatte, an diesem Wochenende so viele Frauen wie nur möglich flachzulegen, hatte keinerlei Probleme damit, seinem uralten Kumpel Shane zu sagen, dass er sich verziehen sollte – auf eine warme und tiefgründige Weise selbstverständlich.
    »Hier bin ich also«, endete Shane theatralisch und warf sein Haar einmal mehr aus der Stirn. Er hatte, während er erzählte, viel gestikuliert, was mir die Möglichkeit geboten hatte, seine Hände eingehend zu studieren. Die Finger waren kürzer und gedrungener, als mir lieb gewesen wäre, aber die Nägel waren gepflegt und sauber (ein absolutes Muss). Seltsamerweise waren seine Hände haarlos, dafür aber weich und wunderbar braun.
    »Dieser Mossy ist wie eine Geschlechtskrankheit, die nur darauf lauert auszubrechen«, bemerkte Caroline und warf voller Verachtung ihr Haar aus der Stirn. (Später entdeckte ich, dass es sich dabei um eine genetisch vererbte
Eigenschaft handelte: Die ganze Familie machte das, selbst der Vater, der gar keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Angeblich hatte er in seiner Jugend einen dichten blonden Haarschopf besessen, und diesen warf er sich trotz dessen Nichtmehrvorhandensein noch genauso eindrucksvoll wie damals aus der Stirn, wie ein Amputierter, der noch immer den Phantomschmerz in einem schon lange abgetrennten Körperteil verspürt.)
    »Beim letzten Halloween hast du dich nicht beschwert«, bemerkte Shane grinsend. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, als Carolines Fäuste auf ihn herunterhagelten. Und wieder waren die beiden nicht mehr zu

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