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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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bremsen, sie kniffen, traten und bissen (das war vor allen Dingen Caroline), knufften und kitzelten (Shane). Sie waren wie zwei junge Löwen, die das Überleben in der Wildnis lernten, indem sie ihre Geschwister halb bewusstlos prügelten. Dabei zuzusehen, war ausgesprochen faszinierend, ich lehnte mich zurück und wünschte mir einen Eimer Popcorn.
    Shane war damals dreiundzwanzig – ich weiß, ich weiß, ich war siebenundzwanzig und hätte es besser wissen sollen. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nicht an Ort und Stelle in ihn verliebt. Es geschah erst sieben Stunden später, nach dem Zwischenfall im Pub.

7
    Nachdem der Zug um 20 Uhr endlich in Cork angekommen war, fuhren Caroline, Shane und ich mit dem Taxi zu ihrem Elternhaus. Auf den Gleisen hatten angeblich Blätter gelegen oder irgend so ein Unsinn. Man beachte bitte, dass Frühling war. Carolines Eltern überraschten mich durch ihre Körpergröße – sie waren beide klein. Ihre Mutter war etwa eins siebenundsechzig, und ihr Vater reichte seiner Frau bis zur Schulter, wo er seinen kahlen Kopf bei jeder möglichen Gelegenheit ablegte. Hunde und Katzen hatten freien Auslauf im Haus, ihre Haare bedeckten jede Oberfläche. Shane, der Jüngste aus dem Wurf, musste sich tief bücken, um seiner Mutter die Umarmung zukommen zu lassen, auf die sie bestand. Danach öffnete Mrs O’Brien die Reisetasche, die er in der Diele hatte fallen lassen, und nahm den großen Plastikbeutel voller – schmutziger – Wäsche heraus. Diese wurde in die Waschküche geschafft und in drei ordentliche Haufen (Weißes, Dunkles, Buntes) unterteilt. Ich erriet richtig, das sie als Nächstes gewaschen, gestärkt und gefaltet werden würde, um sich zum Zeitpunkt von Shanes Rückkehr nach Dublin am Sonntag liebevoll zurechtgelegt wieder in seiner Tasche einzufinden. Irische Mütter und ihre Söhne. Mam hatte sich bei Patrick ebenso verhalten.
    »Kommen Sie ursprünglich aus Dublin, Grace?«, fragte Mrs O’Brien mit starkem Cork-Akzent. Sie schaute traurig, als ich es bestätigte, fasste sich aber schnell wieder und zeigte mir mein Zimmer.

    »Grace ist wirklich ein schöner Name«, bemerkte Mr O’Brien beim Abendbrot. Es war das erste Mal seit meiner Ankunft, dass er überhaupt etwas gesagt hatte, und ich war in Anbetracht seiner geringen Körpergröße überrascht, wie tief und ernst seine Stimme klang. Es war nicht so, dass er schüchtern gewesen wäre, er kam nur einfach nicht zu Wort, wenn Caroline und ihre Mutter beide in vollem Tempo loslegten.
    »Vielen Dank. Meine Mutter hatte eigentlich vor, mich Caitlin zu nennen, aber als ich auf die Welt kam, war ich groß und dünn, Sie werden es kaum glauben. Das mit dem dünn, meine ich.« An dieser Stelle lachte ich und fuhr fort: »Wie man mir erzählt hat, war ich das größte Baby, dass in jenem Jahr in der Holles Street geboren wurde, und weil ich an einem Dienstag geboren wurde, bestand mein Dad darauf, mich Grace zu nennen.«
    »Dienstagskinder voll Grazie sind«, zitierte Mr O’Brien leise und mit halb geschlossenen Augen. »Es passt zu Ihnen«, sagte er, unmittelbar bevor ich nach meinem Weinglas griff und es umwarf. Es war eine Leinentischdecke von Irish Linen, und auch wenn Mrs O’Brien sagte, dass es nicht schlimm sei, war mir klar, dass sie mich später verfluchen würde, während sie sie unters kalte Wasser hielt und Salz in den blutroten Fleck rieb. Mr O’Brien hatte zum Abendessen Shepherd’s Pie gemacht. Als ich zwei unerklärlich dicke dunkle Haare in der Bratensoße fand, die dem Fell des Hundes nicht unähnlich sahen, fuhr ich unauffällig mit meiner Gabel auf den Teller herum und zerdrückte das Essen darauf, um es irgendwie angegessen aussehen zu lassen.
    Mrs O’Brien – bitte nennen Sie mich einfach Sheila – servierte mit dem Abendessen Unmengen an Wein. Da ich seit dem Frühstück nur ein mageres Schinkensandwich der irischen
Eisenbahngesellschaft und nur ein klitzeklein wenig Shepherd’s Pie gegessen hatte, war ich schon ziemlich angetrunken, als Caroline und ich uns auf in den Ort machten.
    »Es ist eine Großstadt, Grace, eine Großstadt!«, brüllte Caroline mich an. Shane war schon früher losgezogen. Seine Mutter hatte mit nassen Fingern versucht, ihm die Stirnhaare zu kämmen. Er wich ihr aus und floh, um ihr aus sicherem Abstand von der Haustür aus einen Kuss zuzuhauchen. Erst als er um die Ecke der Einfahrt gebogen war und sie ihn nicht mehr sehen konnte, kehrte sie dem großen Verandafenster den

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