Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
Vom Netzwerk:
oberen Ende der Gasse stand ein Mann, hob sich als Silhouette gegen die Mondsichel ab, die faul auf ihrem
Rücken lag. Er rauchte, und wenn er inhalierte, glühte das Zigarettenende leuchtend orange auf.
    Als er mich bemerkte, straffte er sich und kam im Zickzack auf mich zu. Er war groß, bullig und besaß kräftige Unterarme, die gegen den Stoff seines langärmligen T-Shirts spannten. Eine schmutzige Bräune überzog halbmondförmig seinen kräftigen Hals. Aus dem Hemdkragen ragte ein dunkler Filz aus schwarzem, gekräuseltem Haar. Es war ruhig hier. Richtig einsam. Ich drehte mich um, wollte zum anderen Ende der Gasse laufen, die auf die hellen Lichter der Synge Street zuging, doch sie war vollgepackt mit leeren Bierfässchen, deren runde Bäuche im Mondlicht silbern leuchteten. Sie versperrten mir den Weg.
    Ich blieb stehen und konzentrierte mich aufs Rauchen, wobei ich meinen Blick starr auf die Wand richtete und meinen Mantel fest um meine Schultern zog. Ich hörte seine stolpernden Schritte. Und dann hielten sie an. Ich konnte ihn spüren, nur wenige Zentimeter entfernt, wie er vor und zurück schwankte. Sein Atem war heiß und feucht. Ich hob den Kopf und nickte ihm mit einem Lächeln zu, das flüchtig genug war, um ihn zu entmutigen, aber nicht flüchtig genug, um mir Unhöflichkeit vorzuwerfen. Jetzt konnte ich sehen, wie betrunken er war. Seine Augen reagierten nur langsam, das Weiße war von roten Äderchen durchzogen.
    »Hallo«, sagte ich. Meine Stimme klang hoch und belegt, verriet meine Angst. Normalerweise bin ich nicht ängstlich. Ich bin groß und kann mich selbst um mich kümmern. Das hier fühlte sich allerdings ganz anders an.
    »Ich hab dich heut im Pub gesehen. Dich und deine Freunde. Habt gelacht.« Seine Augen hatten sich jetzt zu Schlitzen verengt.
    Ich lachte, wie man in heiklen Situationen lacht.

    Dadurch ermutigt, schob er sich näher. Ich wich zurück, der scharfe Kieselrauputz der Wand zerschrammte mir die Haut.
    »Wohin gehst du nachher?« Er fuhr mit seinen Fingern über mein Brustbein. Sie waren kalt und feucht wie Fischschwänze.
    »Nicht!« Ich kämpfte darum, meine Stimme unter Kontrolle zu bringen. Niemand war in der Nähe. Wir waren allein.
    »Du glaubst wohl, du bist zu gut für so einen wie mich, oder?«, lallte er mich an, wobei er erneut leicht ins Schwanken geriet.
    »Was reden Sie da, ich kenne Sie ja nicht einmal.« Ich sprach so ruhig wie möglich und setzte ein angespanntes Lächeln auf. »Ich bin nur übers Wochenende in Cork. Sind Sie von hier?« Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen, während ich versuchte, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten.
    Er beugte sich zu mir herunter, sodass seine Stirn beinahe meine berührte. Sein Atem schlug mir heiß entgegen, und ich bemühte mich, nicht vor ihm zurückzuweichen.
    »Kommst du aus Dublin?« Er sprach mit leiser Stimme. Mein Bauchgefühl sagte mir: leugnen, leugnen, leugnen.
    »Ja«, antwortete ich knapp, und dann: »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Ich wollte an ihm vorbei, aber er war einfach zu breit und blockierte mir den Weg. Er begann, mich mit der Spitze seines Zeigefingers anzutippen.
    »Ihr Schlampen seid alle gleich«, sagte er langsam und stach mich nach jedem Wort mit seinem Finger in die Schulter. Es tat weh. Ich spürte Wut in mir aufsteigen.
    »Lassen Sie mich durch!« Ich versuchte mich an ihm vorbeizuschieben, aber er war wie eine Betonplatte. Der Mond schlüpfte hinter eine Wolkendecke, und wir standen
in der Finsternis. Ich konnte kalten Schweiß auf meiner Haut spüren. Angst schnürte mir die Kehle zu, und mein Atem stockte. Mit beiden Händen auf meinen Schultern presste er mich gegen die Wand.
    »Ich versuche nur, mit dir zu reden.« Jetzt schrie er, sprühte mir dabei Speichel ins Gesicht. Instinktiv stieß ich ihm mein Knie zwischen die Beine. Ein schrilles Ächzen war zu hören, und einen Moment lang wusste ich nicht, ob es von ihm oder von mir kam. Er krümmte sich, stöhnte leise. Ich rannte los, aber er erwischte mich an den Enden meines Mantels und riss mich zurück. Ich fiel auf ihn. Er packte mich bei den Haaren, hielt sie büschelweise in seiner Faust. Panik überdeckte den Schmerz, bis ich ihn nicht mehr spürte. Während ich mich gegen den Kerl zur Wehr setzte, saugte ich mühsam Luft in meine Lungen – ich brauchte mein Asthmaspray. An den Rändern meines Sichtfelds trübte sich mein Blick bereits.
    »Du verdammte Fotze.« Er flüsterte die Worte

Weitere Kostenlose Bücher