Tag vor einem Jahr
brachte mir mindestens eine Minute: Bei den Geräuschen, die die Abwasserleitungen in dieser Wohnung machten, konnte keiner reden. Es toste, als stünde man nach heftigem Regen an den Niagarafällen. Zwar konnte ich hören, dass Caroline etwas sagte, aber ich konnte sie nicht verstehen. Ich blieb in der Badewanne, bis fast das ganze Wasser abgelaufen war. Als ich vorsichtig den Duschvorhang zurückzog, war das Bad leer.
Unter dem Rinnsal, das aus dem Duschkopf kam, versuchte ich mich aufzuwärmen.
Zurück in meinem Zimmer schaute ich nach dem verpassten Anruf auf meinem Handy. Er war von Ciaran – was für ein Schatz. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, wollte wissen, ob ich Lust hätte, mich heute Abend mit ihm und Michael auf einen Drink zu treffen. Wenn man bei der Aussicht, sich den Samstagabend mit zwei etwas in die Jahre gekommenen Homosexuellen in der Innenstadt von Dublin um die Ohren zu schlagen, in Aufregung geriet, sollte man anfangen, sich ernsthafte Fragen über sein gesellschaftliches Leben zu stellen. Ich warf mich in Jeans
und ein langes – schmeichelhaftes – Top mit passendem Glitterkram, verfluchte Bernard, weil meine schwarze Lederjacke für alle Lebenslagen blöderweise bei ihm lag, und verließ das Schlafzimmer – natürlich in High Heels. Man muss wissen, dass sie nur so unbequem aussehen. Sie tun nicht wirklich weh.
»Wo genau, hast du gesagt, warst du letzte Nacht?« Caroline lag auf dem Sofa wie ein gestrandeter – aber schlanker – Wal. Der Beistelltisch neben ihr war übersät mit dicken Orangenschalen und den glatten schwarzen Häuten von Pflaumen. Sie sollte auf einer Werbeanzeige posieren. Für Jogurt. Oder Smoothies. Fettarme, natürlich. Oder vielleicht für ewige Jugend. Sie besaß die gesunde Ausstrahlung einer Frau, die gerade einen herbstlichen Obstgarten genossen hat. Einen Obstgarten am Fuße eines einsamen Berges in den Alpen, wo die Ozonschicht noch immer intakt ist.
Dieses Mal war ich vorbereitet.
»Ich hab bei Clare herumgehangen.«
»Oh. War es ein netter Abend?«
»Äh, ja. Pass auf. Ich treffe Ciaran und Michael auf ein Bier in der Stadt. Hast du Lust mitzukommen?«
»Nein danke. Ich werde das hier noch einmal lesen.« Auf ihrem Schoß lag ein Stapel Papier, zerknittert und zerlesen. Briefe. Ich wusste, von wem sie stammten.
»Grace, das ist echt der Wahnsinn. Hör zu, was er hier schreibt.«
»Tut mir leid, Caroline, ich muss mich sputen, bin schon spät dran …« Ich war bereits den halben Weg zur Eingangshalle hinunter. Die letzten Stufen rannte ich. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich dagegen. Das Holz fühlte sich kühl an an meinem heißen Gesicht.
9
Ciarans und Michaels auserwähltes Stammlokal war das Palace in der Fleet Street. Es war immer voll mit Leuten, die aussahen, als wären sie wochenlang durch die Dublin Mountains marschiert: große, langgliedrige, bärtige Männer mit Stiefeln und Regenschutz, Frauen mit spärlichen Spuren von Lippenstift und gesunder Gesichtsfarbe. Massenhaft Ausländer, die alle Guinness tranken und nach Gerichten mit Austern verlangten, um das Ganze als authentisches Irland-Erlebnis zu verbuchen. Es war eines der letzten Pubs in Dublin, die noch keinen Flachbildschirm an der Wand hatten, im Hintergrund war nur das Summen der Gespräche zu hören. Die Leute plauderten und saßen dabei gemütlich in weichen Sesseln. Das Ganze hatte so eine ländliche Gutshof-Atmosphäre, allerdings ohne all die Plackerei, die das Leben auf einem Bauernhof wohl mit sich bringt.
Mit einem brandneuen 50-Euro-Schein, den ich mir von Caroline gegen das Versprechen ausgeliehen hatte, ihn nach der Lohnüberweisung am Montag sofort zurückzugeben, kaperte ich beim Swan Centre ein Taxi, ließ mich auf dem Rücksitz nieder und verdrehte mir den Hals beim krampfhaft Wegschauen, um jeglichem Gespräch mit dem Taxifahrer aus dem Weg zu gehen. Er fing natürlich trotzdem damit an.
»Hoffnungsloses Wetter, nicht wahr?«
Der März war wieder ganz er selbst und ließ Regengüsse
auf dreckige Straßen herabprasseln. Ich öffnete meinen Mund, um ihm zuzustimmen, aber das war gar nicht nötig. Glücklicherweise gehörte er zu jenen Fahrern, die das Schweigen ihrer Fahrgäste weder als Interesselosigkeit noch als Verlangen nach Ruhe und Frieden werten. Es bedeutete einfach nur, dass man ein guter Zuhörer war. Von Zeit zu Zeit drang seine Stimme in mein Bewusstsein ein.
»Bla, bla … Streiks … Gewerkschaften …
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