Tag vor einem Jahr
bla, bla, lachhafte Fahrpreise, bla, bla, bla … sich auf die Sitze übergeben.« Sein Gerede war auf eine ganz eigene Art beruhigend, und wir waren in kürzester Zeit in der Innenstadt.
Dafür, dass ich eine so gute Zuhörerin war, belohnte er mich damit, dass er sich nicht über meine 50-Euro-Note beschwerte, und natürlich gab ich ihm ein enormes Trinkgeld, bevor mir einfiel, dass die Zauberkraft des Geldautomaten für mich bis Montag nicht wirkte.
In der Dame Street stieg ich aus. Bevor ich auf das Pub zuging, musste ich noch eine Schachtel Zigaretten organisieren. Ich stakste eben vorsichtig über das Kopfsteinpflaster der Temple Bar Street, als ich ihn sah. Sein Anblick ließ mich derart unvermittelt stehen bleiben, dass der Mann hinter mir auf mich prallte und etwas fluchte, das sich nach »verdammte Idiotin« anhörte, bevor er weiterging.
Er war groß. Selbst für einen Mann war er groß. Rote Haare, die er länger trug, als es gerade Mode war, und die er hinter überraschend kleine Ohren geschoben hatte. Über den Jeans, die einen – echten – Riss über dem Knie hatten, ein fest zugeknöpfter Dufflecoat. Er war kälteempfindlich und zog sich gern so an, als wäre er noch immer auf dem College, wo er englische Literatur hatte studieren wollen, aber stattdessen Rechnungswesen belegte, weil Dad gesagt hatte, dass es da Stellen gäbe. Und dann war da das Buch, das er unter dem Arm trug. Dubliners. Mr Joyce. Für seine
Freunde Jimmy. Sein Lieblingsbuch, selbst als wir Joyce runtermachten und ihn »überheblich« fanden. »Was ist falsch an ein bisschen Nick Hornby?«, sagte ich. »Oder an einem John Grisham? Tony Parsons? Was ist mit Roddy Doyle? Oder zur Abwechslung einfach mal einer, der noch lebt?«
Ich stand da, ganz still, die Menschen strömten an mir vorbei, bewegten sich um mich herum. Dann drehte er sich um, und ich erkannte, dass es nicht Patrick war. Natürlich war er es nicht. Wie hätte er es sein sollen? Aber er war in Patricks Alter. Oder zumindest in dem Alter, in dem Patrick jetzt wäre, und er glich ihm so sehr, dass es mir Mühe bereitete, nicht zu ihm hinzugehen, ihm meine Hand auf die Schulter zu legen und ihn anzusprechen. Der Mann musste gespürt haben, dass ich ihn anstarrte, denn er sah mich an, sah mir direkt in die Augen, mit einem Blick, der fast so etwas wie Verständnis ausdrückte.
Langsam wandte ich mich ab und ging zum Pub.
»He, Grace, Mädchen, was ist los?« Ciaran musterte mich besorgt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich geweint hatte. Ich erzählte ihm, ich hätte eine Diskussion mit meiner Mutter gehabt, womit ich immer nah an der Wahrheit war – obwohl wir nicht im eigentlichen Sinne miteinander diskutierten.
»Ich wünschte, du würdest aufhören, mit ihr zu streiten. Sie hat wie ihr alle im letzten Jahr eine schwere Zeit durchgemacht.«
»Ich wünschte, sie würde aufhören, mit mir zu streiten.« Mit Ciarans überdimensionalem Taschentuch tupfte ich mir die Tränen ab, die mir über das Gesicht rollten. Allmählich glaubte ich selbst daran, dass ich einen Streit mit meiner Mutter gehabt hatte und dass ich – natürlich – diejenige war, der Unrecht geschah.
Ciaran musterte mich mit der Weisheit eines Menschen,
der sein ganzes Leben lang ein Außenseiter gewesen war (vor noch nicht allzu langer Zeit war es nahezu legal, an den Wochenenden auf »Schwulen-Jagd« zu gehen, ein Jagdschein war nicht nötig.)
»Grace, mein Liebes, sprich mit deiner Mutter«, flüsterte er mir zu und wischte mit seinem Daumen die verschmierte Mascara unter meinen Augen weg. Das letzte Jahr über hatte er verschiedene Varianten dieses Satzes von sich gegeben.
Michael kam herein, und Ciarans Augen begannen zu leuchten, als wäre Weihnachten.
Ich zog mich ins Untergeschoss zurück, um mein Make-up aufzufrischen, und bei meiner Rückkehr diskutierten sie über Fußballergebnisse, was ich schnell unterband. Wir setzten uns an einen Tisch, der ein wackliges Bein hatte, was Michael sofort mit ein paar Bieruntersetzern und einem Gummiband behob – diesbezüglich war er wie MacGyver. Ich berichtete ihnen von Carolines katastrophaler Verabredung, wobei ich alles schön ausschmückte; ich liebte die Art und Weise, wie Ciaran seinen Kopf zurückwarf und sein ganzer Körper vor Lachen bebte. Es überraschte mich selbst, dass ich mich amüsierte. Das Bier beseitigte die letzten Spuren meines Katers.
Michael war viel ruhiger als Ciaran, er lehnte sich lieber zurück und hörte zu.
Weitere Kostenlose Bücher