Tag vor einem Jahr
Gelegentlich nahm er große Züge von einem Kugelschreiber, den er in der Brusttasche seines Hemds aufbewahrte, und klopfte mit der Spitze an einen imaginären Aschenbecher in der Mitte des Tisches. Wie Ciaran hatte er vor Jahren das Rauchen aufgegeben, ließ sich aber manchmal dazu hinreißen, die Situation nachzuspielen, besonders wenn er an einem Samstagabend ein Bierchen trank. Der Anblick seiner Lippen, die sich um die Kulispitze pressten, und seiner Augen, die sich genießerisch
zusammenzogen, wenn er einen tiefen Zug simulierte, weckten in mir die Lust auf eine Zigarette. Also entschuldigte ich mich und machte mich auf den Weg zur Fleet Street. Es regnete, und ich kauerte mich im Windfang zusammen, wo ich schnell und freudlos an einer Zigarette zog. Auf der Straße fiel ein Betrunkener mit ausgestreckten Armen auf die Knie, sein Gesicht zur dunklen Unendlichkeit des Nachthimmels gehoben. Tränen gleich lief der Regen sein Gesicht hinunter. Ich wandte mich ab und beobachtete, wie leere Taxis vorbeikrochen und gelangweilte Fahrer mit den Fingern auf Steuerrädern herumtrommelten. Die Türen waren fest verschlossen vor den menschlichen Leiden derer, die sie nachher nach Hause befördern würden. Manche von ihnen redeten wie ein Wasserfall vor sich hin. Vielleicht übten sie für später. Oder vielleicht waren sie mit der Zentrale verbunden?
Ein Pärchen kam die Straße hoch, die beiden hatten die Arme auf seltsam altmodische Art untergehakt. Der Mann war groß und muskulös, was allerdings in einer unglückseligen Auswahl an Kleidung unterging (eine zerschlissene Jacke wie von der Heilsarmee, ein T-Shirt mit der Aufschrift »Sag nein zu Margarine«, speckige Jeans, die kurz über den Knöcheln endeten). Er hielt einen Schirm schützend über die Frau, die mit gesenktem Kopf neben ihm ging. Es schien, als versuchte sie, nicht auf die Risse im Pflaster zu treten, was in der Dunkelheit der Nacht seltsam verletzlich wirkte. Der Mann sah auf, und ich bemerkte, dass er eine Brille trug. Eine winzig kleine Joyce-Nickelbrille. Oh Gott, es war Bernard O’Malley. Mein erster Gedanke war, in den Windfang zurückzuweichen und mich dicht an die Mauer zu pressen, doch dazu war es zu spät. Ich verfluchte mich, dass ich mein Make-up nicht nochmal erneuert hatte, bevor ich zum Rauchen herauskam. Ich zog
an meiner Zigarette und verbrannte mir die Lippen am Filter, der von meinen hektischen Zügen heiß geworden war.
»Grace, das bist ja du.« Er blieb vor mir stehen und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Ich verschluckte mich am zu schnell inhalierten Zigarettenrauch und begann zu husten – ein lauter, krampfartiger Husten, der nach Nässe und Krankheit klang. Sie warteten geduldig, und als ich nicht aufhören konnte zu husten, schlug mir Bernard mit der ausgestreckten Hand auf den Rücken – mein Gott, er hatte wirklich wundervolle Hände. Jetzt war ich rot im Gesicht, und Tränen standen mir in den Augen. Ich trank einen großen Schluck aus meinem Glas und zündete mir eine weitere Zigarette an, was enorm hilfreich war. Schließlich schaffte ich es, mit erstickter Stimme »Hallo« zu sagen. Der Rest war Schweigen, nur durchsetzt vom sanften Trommeln des Regens auf ihrem Schirm.
»Äh, Grace, das ist Cliona. Cliona, das ist eine meiner Kolleginnen, Grace.« Cliona, die während meines Erstickungsanfalls eingehend ihre Füße studiert hatte, riss den Kopf hoch, sobald sie meinen Namen hörte. Ihr kleines Gesicht war unter einer riesigen Brille à la Deidre Barlow und langen dunklen Haaren, die wie ein Vorhang über ihre Schultern fielen, versteckt. Zögerlich streckte sie mir die Hand hin, die ich herzlich schüttelte, sodass ihr Körper ordentlich durchgeschüttelt wurde. Erneut peinliches Schweigen. Dann sagten Bernard und ich gleichzeitig »Na?« und lachten übertrieben, ohne uns dabei anzuschauen. Bernard fing sich als Erster. Er sprach schnell und ein bisschen atemlos, so als wäre er eben eine Treppe hinaufgerannt.
»Wir wollten eigentlich gerade auf einen Drink reingehen. Was hast du vor?« Was glaubte er wohl, was ich vorhatte? Schmollend in Windfängen herumstehen und auf ein freundliches Wort von Passanten warten?
»Ich bin auf einen kurzen Drink mit Ciaran aus der Firma und seinem Freund Michael hier.« Ich winkte mit meinen Händen ab, als würde ich danach noch zu einer anderen, viel spannenderen Location aufbrechen, als hätte ich noch etwas Besonderes vor. Was natürlich nicht stimmte. Auf
Weitere Kostenlose Bücher