Tag vor einem Jahr
entfernte mich ein paar Zentimeter, bis ich mit dem Rücken an der Wand stand.
»Dass wird in der Arbeit hoffentlich nicht peinlich werden, oder? Ich meine, zwischen uns?« Ich brannte darauf, seine Haltung zu gestern Abend zu erfahren.
»Ich bin wirklich froh, dass du das sagst.« Bernard seufzte erleichtert auf. Hatte er denn gedacht, ich würde mich am Montagmorgen vielleicht auf seinen Schreibtisch werfen und eine Wiederholung der Vorstellung von Freitagnacht verlangen?
»Es ist nur so, dass ich dort neu bin, und es wäre mir äußerst unlieb, wenn es zwischen uns eine angespannte Atmosphäre gäbe.« Er sprach leise, sein warmer Atem wehte mir ins Gesicht.
»Na, da bin ich ja froh, dass wir das geklärt haben.« Ich sprach zu laut, meine Hand spielte mit einer entwischten Haarsträhne.
»Ja, ich auch.« Bernard stand kerzengerade da und schien seinen Atem anzuhalten. Plötzlich sah es so aus, als würde der Raum zwischen uns schrumpfen, und ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an die Zunge dieses Mannes auf meinem Hals, genau an der Stelle knapp unter meinem Ohrläppchen, und zwar am gestrigen Abend. Ich schloss meine Augen und versuchte meine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren, etwa Toastbrot mit Schinken und Käse mit besonders scharfem Senf und Butter.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Bernard beunruhigt.
»Ja, großartig, keine Sorge«, brachte ich mit erstickter Stimme heraus.
Dann gab ich mir einen Ruck und machte mich auf. Mein Körper streifte seinen, und alle guten Vorsätze waren in den Wind geschlagen. Er fasste nach meinem Gesicht, beugte seinen Kopf zu mir herunter, und wir küssten uns wie verrückt. Seine Zähne schlugen gegen meine, meine Hände zogen ihn an mich, als wäre ich eine Ertrinkende, die sich an den Rettungsring klammert. Wir taumelten im Vorraum hin und her, fielen gegen die Wand und irgendwann gegen die Treppe, was eine Schramme auf meinen Schulterblättern hinterließ. Erst als jemand rief: »Sucht euch ein Zimmer«, konnten wir uns voneinander trennen. Wir keuchten und starrten uns mit weit aufgerissenen Augen gegenseitig an, als hätten wir uns noch nie zuvor gesehen. Meine Brust hob und senkte sich angestrengt, ich war
völlig außer Atem. Bernard raufte sich die Haare und flüsterte heiser: »Scheiße.« Mit übermächtiger Selbstbeherrschung richtete ich mich auf und brachte meine Haare in Ordnung, die sich in dem Handgemenge aus der Spange gelöst hatten.
»Bernard«, ich bemühte mich um einen Rest von Würde, »ich weiß nicht, wie das jetzt kam. Lass uns zu Plan A zurückkehren, in Ordnung?« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Plötzlich sah er erschöpft aus. Er stützte sich ab und sah mich an.
»Du hast Recht. Lass uns das machen.« Er hielt inne, und es war offensichtlich, dass er etwas sagen wollte. Und dann sagte er es: »Aber ich mag dich, Grace O’Brien. Du bist eine interessante Frau.« Er strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und tätschelte mir auf fast brüderliche Weise den Arm. Dann war er weg, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Ich starrte ihm nach und hievte mich schließlich hoch, wobei ich mich wie eine alte Frau am Geländer festklammerte. Als ich mich wieder auf meinem Sessel niederließ, hatte Cliona ihren Arm um Bernards Schultern geschlungen und erzählte Michael und Ciaran eine Geschichte über einen Backwettbewerb, den Bernard in seinem zweiten Schuljahr gewonnen hatte.
»Mit seinen Händen war er schon immer gut.« Cliona streichelte seinen Arm und versuchte dabei, meinen Blick aufzufangen. Ich trank einen gewaltigen Schluck Bier und kleckerte. Immerhin hatte ich Bernard von Shane erzählt, warum hatte er nichts von Cliona gesagt?
Schließlich stand ich auf, schrammte mit den Stuhlbeinen über den Dielenboden und wünschte ihnen eine gute Nacht. Für heute hatte ich genug. Mein Bett lockte.
10
Barcelona, August 2003
Liebe Grace,
dies ist eine Woche der verlorenen Dinge. Zuerst verlor ich die Orientierung auf dem Weg zu Antonio Gaudis Park Güell (ich vergaß, dass »izquerda« »links« und nicht »rechts« bedeutet). Dann verlor ich den Schlüssel zu meinem Hotelzimmer – das Wort »Hotel« benutze ich hier im weitesten Sinn, allerdings hat es den Vorteil, dass es auf der Promenade Las Ramlas liegt (denke dir die Grafton Street mit allem, was die Moore Street bietet, aber viel größer und mit Leuten, die richtig sonnengebräunt sind). Aber was wahrscheinlich wichtiger ist, ich verlor
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