Tag vor einem Jahr
zum Plaudern bequem. Clare klang angespannt.
»Was ist los?« Ich setzte mich auf und warf dabei ein paar der Kissen auf den Boden. Als sie auf den dunklen Dielen wegrutschten, machten die Perlen und Steinchen, mit denen sie bestickt waren, ein angenehm klirrendes Geräusch. Clare war selten mal nicht gut gelaunt und unbekümmert. Wäre sie nicht so nett und lieb und mit mir verwandt, hätte ich sie wahrscheinlich gehasst.
»Nichts, nichts«, sagte sie. »Es ist nur, na ja, ich stelle die Tischordnung für die Hochzeit zusammen.« Sie verstummte.
»Shane kommt, wenn es das ist, was du meinst«, antwortete ich zu schnell. Noch wusste ich es nicht sicher, doch ich war nicht bereit, meinen berechtigten Zweifel daran mit der ganzen Welt zu teilen.
»Nein, nein, darum geht es nicht.« Eine weitere Pause. Das sah ihr nicht ähnlich. In Clares Welt gab es keine bedeutungsschwangeren Pausen und unangenehmes Schweigen. Normalerweise konnte sie reden, dass es für Irland, England, Schottland, Wales und vermutlich einen guten Teil von Nordamerika reichte.
»Clare, was hast du für ein Problem?« Meine Stimme wurde leiser, als ich versuchte, die Rolle der klugen älteren
Schwester anzunehmen. Ich fühlte mich in dieser Rolle nicht wohl und war auch nicht sonderlich gut darin.
»Es geht um Mam. Sie will einen Bekannten zur Hochzeit mitbringen.«
»Einen Bekannten?«, wiederholte ich langsam, während meine Gedanken rasend schnell verschiedene Möglichkeiten durchspielten.
»Ja, das hat sie gesagt. Einen Bekannten. Einen Freund.«
»Was für einen Freund?«, fragte ich.
»Einen Freund männlichen Geschlechts. Einen männlichen Freund.« Clare hielt inne, als ihr keine Adjektive mehr einfielen, um die Situation zu beschreiben.
Ich nehme an, wenn man meine Mutter nicht kannte, würde man wahrscheinlich die Achseln zucken, das Gesicht verziehen und »Na und?« oder »Wen interessiert’s?« sagen oder vielleicht sogar: »Auch Frauen über sechzig brauchen mal einen.« Oder etwas in der Art. Tatsache war, dass Mam seit mehr als zehn Jahren in einem Stadium freiwilligen Singletums gelebt hatte – seit Dad an einem plötzlichen, unerwarteten Herzschlag gestorben war.
»Kollabiert«, sagten sie uns, als ob es sich bei ihm um ein instabiles Gebäude handelte, das einfach so in sich zusammengefallen war.
Seit damals, das wusste ich genau, hatte sie sich bis zum heutigen Tag niemals mit einem Mann verabredet. Sie hätte schon über dieses Wort gelacht: »verabredet«. Oder »Freund«. Und ganz besonders »Partner«, das zu den ihr verhasstesten »Modewörtern« gehörte. Das war übrigens ein weiterer Begriff, den sie hasste: »Modewort«.
Wir hatten das als selbstverständlich hingenommen. Weil sie eine so starke Persönlichkeit war und weil sie viel von Dad sprach und sich an ihn so liebevoll erinnerte, schien es immer, als hätte sie nach wie vor in einer Paarbeziehung
gelebt. All diese Jahre waren vergangen, und wir hatten sie nie wirklich als alleinstehend betrachtet. So war nun einmal der Stand der Dinge.
Nun ja, wie es schien, inzwischen nicht mehr.
»Er heißt Jack Frost«, fuhr Clare fort. »Sie hat ihn in einem ihrer Abendkurse kennengelernt.«
»Nein, warte, spul kurz zurück. Er heißt Jack Frost? Das kann nicht sein. Das muss ein Künstlername oder so sein. Niemand wird absichtlich Jack Frost genannt. Was macht er?«
Pause. Dann antwortete sie: »Er ist Zauberkünstler.«
»Zauberkünstler?« Mir war bewusst, dass ich alles, was sie sagte, wiederholte. Das war eine Eigenschaft, die mich normalerweise zum Wahnsinn trieb – aber, ich meine, man muss sich das mal vorstellen. Ein Zauberkünstler namens Jack Frost läuft in den Straßen der Dubliner Innenstadt herum, ist freundlich gegenüber schutzlosen Witwen (an meiner Mutter war absolut nichts Schutzloses, aber wie sollte Mr Frost das jetzt schon wissen), küsste vielleicht meine Mam, eventuell sogar mit Zungenküssen, vielleicht sogar … AUUUUUU.
Ich warf mich auf mein Bett zurück und schlug mir dabei den Kopf am Rückenteil an. Das Zimmer drehte sich im Einklang mit meinem pochenden Kopf, und ich fluchte wie ein Bierkutscher.
»Alles okay?« Das war Clare, die offensichtlich dachte, ich hätte das ganze »Mam geht mit einem Zauberkünstler aus«-Szenario nicht gut aufgenommen.
»Ja, alles okay.« Ich rieb mir den Kopf und drehte die Haare zu einem riesigen Knoten zusammen. Tatsache war, dass ich vor Neugierde brannte. »Bei welchem Abendkurs hat sie
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