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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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wusste aber nicht, wo ich anfangen sollte.
    »Du kaust auf deinen Haarspitzen herum, hast keinen Hunger und hast noch nicht einmal einen Blick auf die Pralinen geworfen, die in der Schüssel auf dem Tisch stehen.« Clare wickelte sich das Handtuch vom Kopf.
    »Doch, ich habe einen Blick darauf geworfen«, widersprach ich, »aber, nimm’s mir nicht übel, es sind Ferrero Rocher.«

    »Da hast du allerdings Recht«, räumte sie ein. »Trotzdem, etwas ist mit dir los. Also, was ist?«
    Ich zog ein paar Haarsträhnen aus meinem Mund, sah zu ihr hinüber und beschloss, gleich zum Kern der Sache zu kommen.
    »Wusstest du, dass Mam Patricks Zimmer ausräumt?« Ich behielt sie sorgfältig im Auge, als ich die Frage stellte. Abgesehen von einem leichten Beben der Nasenflügel, war sie sehr still.
    »Ja, sie hat es mir erzählt«, antwortete sie schließlich.
    »Wann hat sie damit angefangen?«, wollte ich wissen. »Und warum?« Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
    »Grace, das ist wirklich gut so. Es bedeutet einfach nur, dass sie …«
    »Weitermacht, ja, das habe ich begriffen«, beendete ich an Clares Stelle den Satz.
    Sie überging meinen Einwurf und fuhr fort: »Ich glaube, es war vor zwei oder drei Wochen. Ich schaute bei Mam vorbei. Sie hatte mich nicht erwartet.« Clare schob sich die Haare hinter das Ohr und wagte einen kurzen Blick.
    »Erzähl weiter«, drängte ich sie. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde meine Puppen nicht aus dem Kinderwagen werfen, weil du es mir nicht früher erzählt hast.« Genau genommen fühlte ich mich danach, meinen Puppen Säure ins Gesicht zu schütten, sie in Brand zu setzen und auf ihren schwarzen Überresten herumzuspringen, aber ich wollte an Informationen kommen. Also riss ich mich zusammen.
    »Na ja, Mam war allein zu Hause. Ihr Gesicht war verquollen und rot, als hätte sie stundenlang geweint, und das Haus war ein einziges Chaos, dazu auch noch eisig kalt. Sie saß in ihrem Morgenmantel auf der Couch, und es machte den Eindruck, als hätte sie fast den ganzen Tag da gesessen.
Es war Zeit zum Abendessen, und sie hatte noch nicht einmal Kartoffeln geschält.«
    Das war schockierend. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Mam jemals kein Abendessen gekocht hätte, sah man einmal von dem Tag ab, an dem sie mit Clare aus dem Krankenhaus heimkam, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich sie die ersten sechs Monate ihres Lebens hasste. Ich war schon immer ein Mädchen, das das Essen liebte.
    »Was hat sie gesagt?«, fragte ich.
    »An diesem Tag war ein Anruf gekommen – für Patrick. Von seiner verfluchten Kreditkartengesellschaft. Sie war ganz von der Rolle«, erzählte Clare. »Ich denke, sie befand sich in einem Schockzustand oder so etwas Ähnlichem. Als sie endlich zu reden anfing, konnte sie nicht mehr aufhören. Ich hatte sie gerade an ihrem Tiefpunkt erwischt. Sie musste mit jemandem sprechen.« Als sie zu mir aufsah, klang Clare entschuldigend.
    »Sie sagte, sie wäre im Begriff, etwas zu machen, was sie schon lang hätte machen sollen. Alle seine Bankkonten schließen, seine Bankkarten kündigen, seinen Mobilfunkanschluss. Du weißt schon, solche Sachen eben. Sie zeigte mir in seinem Zimmer einen Stapel Briefe, überwiegend von Banken, die sie im Laufe des letzten Jahres gesammelt hatte. Am nächsten Tag fing sie an, sein Zimmer auszuräumen.«
    »Gibt sie mir noch immer die Schuld?« Ich schaute aus dem Fenster und hielt den Atem an.
    »Sie hat dir nie die Schuld gegeben, das weißt du. Du konntest nichts dafür. Es war ein Unfall. Wie oft muss ich dir das noch sagen?« Clare schaute mich so zornig an, wie es ihr nur möglich war. Ich spürte, wie an meinem Hals eine Ader pochte. Wut kochte in mir hoch.

    »Und was ist mit dem, was sie in Spanien zu mir gesagt hat?« Ich bemühte mich, mit fester Stimme zu sprechen und nicht laut zu werden.
    »Sie war aufgeregt. Man sagt solche Sachen, wenn man aufgeregt ist. Sachen, die man nicht so meint.«
    »Sie hat es so gemeint«, schrie ich. »Sie hat es so gemeint, weil es stimmte. Ich war egoistisch und gedankenlos und musste immer im Mittelpunkt des Interesses stehen.« Als ich zu reden aufhörte, ging mein Atem stoßweise, so als wäre ich eine Treppe hinaufgerannt. Clare sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an. Sie tat mir leid. Erst hatte sich Mam bei ihr entladen, jetzt ich. Aber was soll man machen, wenn man einen Menschen wie Clare hat, jemanden, der zuhören kann, ohne ein Urteil zu fällen? Das ist eine

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