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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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untergegangen war und sie einen weiten Weg hinter sich hatten, nahmen sie auf einer Bank Platz, zweifelsohne nur, um den Widerschein des rosenroten Himmels im gesänftigten Meer zu betrachten. Honoré näherte sich Violante, und damit sie ja nicht unter der Kälte litte, knöpfte er den Umhang auf ihrem Halse mit einer raffinierten Langsamkeit fest und schlug ihr vor, mit seiner Hilfe die Theorien praktisch zu erproben, über die er ihr im Park Unterricht erteilt hatte. Er wollte ganz leise mit ihr sprechen und brachte seine Lippen dem Ohr des Mädchens, das sich nicht zurückzog, immer näher. Violante hörte ein Geräusch im Gebüsch.
    »Aber es ist nichts«, sagte zärtlich Honoré.
    »Meine Tante ist es«, sagte Violante; es war der Wind. Aber Violante hatte sich schon erhoben. Sehr im rechten Augenblick durch den Wind ernüchtert, wollte sie sich durchaus nicht wieder setzen und sagte Honoré trotz seiner Bitten Adieu.
    Sie hatte Gewissensbisse, eine Nervenkrise, konnte zwei Tage lang schwer einschlafen. Ihre Erinnerung war ein glühendes Kopfkissen, das sie unablässig hin und her wendete. Zwei Tage nachher wollte Honoré sie sehen; sie ließ antworten, sie sei spazierengegangen. Honoré glaubte es nicht und wagte nicht wiederzukommen. Im nächsten Sommer dachte sie mit Zärtlichkeit an Honoré zurück, freilich auch mit Betrübnis, denn sie wußte, daß er als Matrose zu Schiff fortgereist war. Wenn die Sonne im Meer untergegangen war, saß sie auf der Bank, zu der er sie damals (es war gerade ein Jahr) hingeführt hatte, und gab sich alle Mühe, die suchenden Lippen Honorés in die Gegenwart zurückzurufen, seine grauen Augen zwischen den halb gesenkten Lidern, seine wie Strahlen umherirrenden Augen, die plötzlich über sie ein heißes, helles, lebensvolles Licht ausschütteten. Und in den milden Nächten, in den weiten, von aller Welt abgeschlossenen Nächten, wenn die Gewißheit, allein zu sein, ihr Verlangen ins Unermeßliche steigerte – da hörte sie Honorés Stimme, die ihr verbotene Dinge ins Ohr flüsterte. Er stand da, der Mittelpunkt des Zauberkreises, quälend und lockend gleich einer teuflischen Versuchung.
    Eines Abends sagte sie seufzend beim Diner dem Intendanten, der ihr gegenübersaß:
    »Ich bin sehr traurig, mein Augustin. – Niemand hat mich lieb« – fügte sie hinzu.
    »Und doch«, erwiderte Augustin, »sind es keine acht Tage – es war, als ich in Jolianges die Bibliothek in Ordnung brachte –, da hörte ich von Ihnen sagen: ›Ach, ist die schön!‹«
    »Und wer war es?« fragte Violante sehr betrübt. Ein zartes Lächeln kräuselte unmerkbar die Winkel ihrer Lippen, als versuchte man einen Vorhang zu lüften, um gutes Sonnenlicht hineinzulassen.
    »Der junge Mann vom letzten Jahr, Herr Honoré.«
    »Ich dachte, er sei auf See«, sagte Violante.
    »Er ist zurück«, sagte Augustin.
    Violante erhob sich sofort und ging mit sehr unsicheren Schritten in ihr Zimmer, um Honoré zu schreiben, er möge sie besuchen kommen. In dem Augenblick, als sie die Feder ergriff, hatte sie ein Gefühl von Glück, eine Empfindung von ungeahnter Macht. Sie fühlte tief im Innern, daß sie ihr Leben doch ein wenig nach ihrer Laune und ihrem Sinnenglück sich gestalten könne; daß sie dem Räderwerk ihrer beider Geschicke, das sie mechanisch fern voneinander einzuschließen schien, allem zum Trotz einen kleinen Stoß geben könne, daß er nachts erscheinen würde auf der Terrasse, ganz anders als in der schrecklichen Ekstase ihres nie gestillten Wunschtraumes. Daß seine unerwiderten Zärtlichkeiten (ihr ewiger innerer Roman) und die Wirklichkeit Straßen hatten, die sich trafen und auf denen man sich zum Unmöglichen emporschwingen konnte, und daß sie das Unmögliche möglich machen würde durch ihren Glauben.
    Am nächsten Tage empfing sie eine Antwort, und sie las sie voll Zittern auf der Bank, wo er den Arm um sie gelegt hatte:
    »Gnädiges Fräulein! Ich empfing Ihren Brief eine Stunde vor der Abfahrt meines Schiffes. Wir hatten Landurlaub nur auf acht Tage, und ich komme erst in vier Jahren zurück. Wollen Sie, bitte, nicht ganz vergessen Ihren Ihnen herzlich und aufrichtig ergebenen Honoré.«
    Nun, im Angesicht dieser Terrasse, wohin er nie wieder kommen sollte und wo niemand ihre Sehnsucht erfüllen würde, angesichts dieses Meeres, das ihn ihr entführte und ihr dafür zum Entgelt (in der Phantasie dieses jungen Mädchens) ein wenig von seinem großartigen, geheimnisvollen und schaurigen

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