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Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)

Titel: Tage des letzten Schnees: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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in dem sich Kirsti und Lasse Ekholm schweigend gegenübersaßen, aneinander vorbeisehend. Lasse Ekholm saß gebückt, in einer Schonhaltung, und schien keinen Zugang zu den körperlichen Schmerzen zu finden, die vermutlich viel stärker waren, als er wahrhaben konnte.
    »Chemie, genau«, sagte Kirsti Ekholm.
    »Was?«, fragte ihr Mann.
    »Chemie. Heute. Annas Prüfung. Beim Gockel.«
    Lasse Ekholm schwieg.
    »So nennen sie den Chemielehrer, weil er sich immer so aufplustert«, sagte sie.
    Lasse Ekholm sah seine Frau an, lange. Dann lehnte er sich ein wenig zurück, schüttelte den Kopf und begann, lautlos zu weinen.

APRIL
20
    Am nächsten Morgen erwachte Markus Sedin aus dem vagen Halbschlaf, der am Ende der Nacht doch noch gekommen war, mit dem Gedanken, nur einen Tag Zeit zu haben. Er erklärte Réka, was er vorhatte, während sie im kleinen Wohnraum vor dem laufenden Fernseher saßen und Kaffee tranken. Das Dach musste abgedeckt werden, dringend.
    »Sonst fällt euch die Decke auf den Kopf«, sagte er.
    »Ja?«, sagte sie, noch ein wenig schlaftrunken. Sie führte mit beiden Händen die Tasse zum Mund.
    »Spätestens beim nächsten Unwetter«, sagte er.
    Sie nickte.
    »Und die ganze Außenseite sollte gestrichen werden«, sagte er. »Und deine Mutter und der kleine Junge … von deiner Cousine …«
    »Dávid?«
    »Ja, genau … die brauchen Betten. Das Kinderbett passt hier in die Ecke, wenn ihr diese … Kommode da wegstellt …«
    Sie folgte seinem Blick, und Sedin fragte sich, wie man auf die Idee kommen konnte, eine derart klotzige Kommode in ein Zimmer zu stellen, das ohnehin höchstens zehn Quadratmeter groß war.
    »Ja …«, sagte sie.
    »Du musst das alles machen, weil ich heute zurückfliege, aber … den Rest besorge ich, ok?«
    Sie sah ihn fragend an.
    »Gibt es hier irgendwo eine Bank? Geldautomat?«
    »Nein«, sagte sie. »Nicht in Krisztina. Aber in anderer … Stadt. Du bist durchgefahren, glaube ich …«
    Er nickte, erinnerte sich. Was Réka Stadt nannte, war ebenfalls ein Dorf gewesen, ein etwas größeres, er erinnerte sich an einen Supermarkt und eine Leuchtreklame, die nicht geleuchtet hatte.
    »Ja«, sagte er. »Da fahren wir gleich hin. Kannst du mir deine Bankdaten geben?«
    Sie verstand nicht.
    »Kontonummer … IBAN und so weiter, das brauchen wir für die innereuropäische Abwicklung …«
    »Was?«, sagte sie.
    »Entschuldige … also, wenn du Geld holst, gehst du ja zur Bank …«
    »Nein«, sagte sie.
    »Äh … nein?«
    »Nein, ich schicke immer Geld nach Hause. Wenn ich genug gearbeitet habe … also … wir alle machen das so, auch meine Schwestern …«
    »Du hast noch mehr Schwestern?«
    »Ja, vier. Arbeiten alle woanders, eine in … wie heißt das … Schweiz, zwei in Deutschland, und eine auch da in Belgien, wie ich, aber in Brüssel.«
    »Aha.«
    »Ja … so … wir schicken immer Geld … wie heißt das … direkt nach Hause«, sagte sie.
    Er nickte. Bargeldversand. Ihm lag auf den Lippen, ihr zu sagen, dass das Unmengen an Gebühren kostete, aber er verschluckte den Satz. Vermutlich hätte sie nicht begriffen, wovon er redete.
    »Ok … also, ich muss am Nachmittag los, deshalb lass uns in diese … Stadt fahren. Die Stadt mit dem Geldautomaten.«
    Sie nickte und stand wenig später zur Abfahrt bereit, in kurzen Hosen und einem orangen T-Shirt, eine Spur zu sommerlich gekleidet.
    »Ja … ist dir warm genug?«, fragte er.
    »Die Sonne scheint doch.«
    »Äh, ja. Aber … egal.«
    Sie fuhren auf dem Weg, auf dem er am Vortag gefahren war. Von den Schafen fehlte jede Spur, dafür war der Traktor wieder unterwegs. Nach einiger Zeit kamen sie dennoch an. Er stieg aus und ging unter einer gleißenden, aber kühlen Sonne zu dem Geldautomaten, der verloren und ein wenig aus der Verankerung geraten an einer weißen Wand hing. Aber er funktionierte tadellos. Markus Sedin stand einige Sekunden lang unschlüssig mit den Scheinen in der Hand da, bevor er zurück zum Wagen ging.
    »Hat’s geklappt?«, fragte Réka.
    Er nickte.
    »Und … jetzt?«, fragte sie.
    Er betrachtete das Geld in seinen Händen. »Hier«, sagte er. »Für dich. Für deine Familie.«
    Sie sah ihn an, lange, fast traurig, nachdenklich, und Sedin hatte den Eindruck, dass sie etwas sagen wollte. Aber sie schwieg, nahm nach einer Weile das Geld und verstaute es sorgfältig in ihrer kleinen Handtasche.
21
    Während des Rückflugs hatte er das Gefühl, wieder in die Zeit zurückzukehren, zurück zu dem Punkt, an dem

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