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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Gesellschaft nichts angeht, und zwar auf keinen Fall, so daß er sie auch nicht verändern muß –
    Punktum!
    Es fragt sich, ob diese romantische Schablone jemals stimmte, ob sie für einzelne Völker stimmte, beispielsweise das deutsche, ob sie für uns und unsere Zukunft stimmt. Jedenfalls stimmt sie nicht für den griechischen Künstler, der sich seiner Polis verpflichtet wußte; nicht für Dante, den die Verbannung traf; nicht für Goethe; nicht für Gottfried Keller, der Staatsschreiber wird und seine Mandate zum eidgenössischen Bettag schreibt; nichtfür Gotthelf; nicht für die modernen Franzosen, die Dichter bleiben, auch wenn sie staatliche Ämter bekleiden.
     
    Ziel ist eine Gesellschaft, die den Geist nicht zum Außenseiter macht, nicht zum Märtyrer und nicht zum Hofnarren, und nur darum müssen wir Außenseiter unsrer Gesellschaft sein, insofern es keine ist –
    Höflich zum Menschen. Aber nicht zum Geld.
    Verpflichtet an eine Gesellschaft der Zukunft: – wobei es für die Verpflichtung belanglos ist, ob wir selber diese Gesellschaft noch erreichen, ob sie überhaupt jemals erreicht wird; Nähe oder Ferne eines Zieles, solange es uns als solches erscheint, ändern nichts an unsrer Richtung.

Café de la Terrasse
    Jemand berichtet aus Berlin: Ein Dutzend verwahrloste Gefangene, geführt von einem russischen Soldaten, gehen durch eine Straße; vermutlich kommen sie aus einem fernen Lager, und der junge Russe muß sie irgendwohin zur Arbeit führen oder, wie man sagt, zum Einsatz. Irgendwohin; sie wissen nichts über ihre Zukunft; es sind Gespenster, wie man sie allenthalben sehen kann. Plötzlich geschieht es, daß eine Frau, die zufällig aus einer Ruine kommt, aufschreit und über die Straße heranläuft, einen der Gefangenen umarmt – das Trüpplein muß stehen bleiben, und auch der Soldat begreift natürlich, was sich ereignet hat; er tritt zu dem Gefangenen, der die Schluchzende im Arm hält, und fragt:
    »Deine Frau?«
    »Ja –.«
    Dann fragt er die Frau:
    »Dein Mann?«
    »Ja –.«
    Dann deutet er ihnen mit der Hand:
    »Weg – laufen, laufen – weg!«
    Sie können es nicht glauben, bleiben stehen; der Russe marschiert weiter mit den elf andern, bis er, einige hundert Meter später, einem Passanten winkt und mit der Maschinenpistole zwingt, einzutreten: damit das Dutzend, das der Staat von ihm verlangt, wieder voll ist.

Zum Theater
    Heute wieder einmal an einer Probe, und da ich eine Stunde zu früh war, verzog ich mich in eine Loge, wo es dunkel ist wie in einer Beichtnische. Die Bühne war offen, zum Glück, und ohne Kulissen, und das Stück, das geprobt werden sollte, kannte ich nicht. Nichts ist so anregend wie das Nichts, wenigstens zeitweise. Nur gelegentlich ging ein Arbeiter über die Bühne, ein junger Mann im braunen Overall; er schüttelt den Kopf, bleibt stehen und schimpft gegen einen andern, den ich nicht sehen kann, und es ist eine ganz alltägliche Sprache, was auf der Bühne ertönt, alles andere als Dichtung – kurz darauf erscheint eine Schauspielerin, die gerade einen Apfel ißt, während sie in Mantel und Hut über die leere Bühne geht; sie sagt dem Arbeiter guten Morgen, nichts weiter, und dann wieder die Stille, die leere Bühne, manchmal ein Poltern, wenn draußen eine Straßenbahn vorüberfährt. Die kleine Szene, die sich draußen auf der Straße tausendfach ergibt, warum wirkte sie hier so anders, so viel stärker? Die beiden Leute, wie sie eben über die Bühne gingen, hatten ein Dasein, eine Gegenwart, ein Schicksal, das ich natürlich nicht kenne, dennoch war es da, wenn auch als Geheimnis, es hatte ein Vorhandensein, das den ganzen großen Raum erfüllte. Ich muß noch bemerken, daß es ein gewöhnliches Arbeitslicht war, ein Licht wie Asche, ohne jeden Zauber, ohne sogenannte Stimmung, und die ganze Wirkung kam offenbar daher, daß es ein anderes als diese kleine Szene überhaupt nicht gab; alles andere ringsum war Nacht; ein paar Atemzüge lang gab es nur eins: einen Bühnenarbeiter, der schimpft, und eine junge Schauspielerin, die gähnt und in die Garderobe geht, zwei Menschen, die sich im Raume treffen, die gehen können und stehen, aufrecht,die eine tönende Stimme haben, und dann wieder ist alles vorbei, unbegreiflich, wie wenn ein Mensch verstorben ist, unbegreiflich, daß er gewesen ist, daß er vor unseren Augen gestanden hat, gesprochen hat, alltäglich und belanglos, dennoch erregend –
    Etwas an dem kleinen Erlebnis scheint mir wesentlich,

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