Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
bleibt geballt, bis ich eintrete in die Zone öffentlicher Thematik.
. . .
Hier fragt er, was ich arbeite.
. . .
Hier schweigt er vor sich hin, ein Mann, der als unverwundbar gilt; man weiß von einer Infamie gegen ihn, er erspart uns die private Klage. Er wird sich öffentlich wehren.
. . .
Hier freut er sich. Worüber? Wenn ein politischer Erfolg zu verzeichnen ist, sieht er anders aus; dann ist er zufrieden, sehr ernst im Bewußtsein, wie vieles noch zu tun ist. Hier freut er sich offenbar über ein Zeichen von Sympathie.
. . .
Hier ist er eher still; er fühlt sich wohl im Häuslichen. Zwar hat er uns als Besucher in der großen Stube; es gibt Pilze aus dem Grunewald. Morgen muß er nach Bonn.
. . .
Hier wird er von der Weltpresse ausgefragt: GERMANY'S GÜNTER GRASS , er antwortet nicht als Sprecher der Regierung,aber auch nicht als Privat-Schriftsteller, sondern als Staatsbürger mit besonderer Reputation. Dabei lächelt er nicht nach Art der Diplomaten; die Frager sind ihm nicht lästig, im Gegenteil, und er kneift vor ihren Fragen nicht, seine Antworten sind nicht geheimnisvoll. Seine zähe Allergie gegen deutsche Verstiegenheit stiftet Vertrauen gegenüber Deutschland.
. . .
Hier hört er zu.
. . .
Hier schweigt er sich aus, ohne daß er sich dazu eine Zigarette dreht; nachträglich fällt mir ein: über sein Stück, das Bertolt Brecht auf die Szene schickt, habe ich mich bis heute auch ausgeschwiegen.
. . .
Sein Gesicht ist schmaler geworden, meine ich, nicht weniger kräftig als in der Villa am Zürichberg; damals war es, von vorne gesehen, zugleich weicher und aggressiver. Hier schneit es; sonst trägt er die Schlägermütze nur noch selten. Hingegen das Profil, meine ich, hat sich verschärft.
. . .
Hier habe ich einen Namen erwähnt, dem er seine Achtung verweigert; er läßt sich über den traurigen Fall nicht mehr aus. Pause. Es gibt anderes zu besprechen. Eine Zusammenkunft mit Herbert Wehner. Er wird die deutsche Seite veranlassen,ich soll die schweizerische Seite veranlassen. Dabei duzen wir uns: 60 Millionen zu 6 Millionen. Aber der Unterschied ist nicht bloß numerisch. Er repräsentiert. Was er nicht ganz versteht: die Situation des Privat-Schriftstellers.
. . .
Hier im Freien, Sommer, er dreht das Spanferkel am Spieß, schwitzt und ordnet an, wo noch Glut hingehört, während wir in der nächtlichen Wiese hocken oder um das Feuer stehen in kulinarischer Zuversicht; ab und zu streut er Gewürz auf das Spanferkel.
. . .
Hier, glaube ich, weiß er nicht, daß jemand ihn sieht; daß er es nicht weiß, verändert ihn nicht.
. . .
Hier ein Bild, wie ich ihn nicht kenne, eines von vielen; ausreichend für einen Steckbrief: Stirn, Nase, Schnurrbart, Kinn usw., alles zu eindeutig, vor allem der Blick.
. . .
Hier seine Handschrift: barock-graziös.
. . .
Das kann irgendwo sein, ich weiß nicht, ob in einem Flughafen oder in einem Grotto, es spielt keine Rolle: er ist sich bewußt, eine öffentliche Figur zu sein wie kein anderer deutschsprachigerSchriftsteller; weder legt er Wert darauf, von Leuten erkannt zu werden, noch stört es ihn, so scheint es.
. . .
Hier spricht er über die MELANCOLIA I von Dürer.
. . .
Hier trägt er einen leichten Bart, was bedeutet, daß er sich gerade im Tessin befindet und an einem Buch arbeitet; er zeigt uns die gesammelten Schnecken auf Granit, Signet der Sozialdemokratie, ferner Skorpion in Grappa, den er als Hausvater gefangen und unschädlich gemacht hat. (August 1970)
SEPTEMBER 1970
Drei Verkehrsflugzeuge (SWISSAIR, BOAC, TWA) werden von palästinensischen Freischärlern gekapert und nach Amman und Kairo entführt. Ein vierter Handstreich gegen eine EL AL-Maschine ist nicht gelungen; die Luftpiratin (»Leila«) wurde in der Maschine überwältigt durch bewaffnete Sicherheitsbeamte, einer erschossen, und im übrigen hatte man Glück; eine entsicherte Handgranate, die in der Kabine umherrollte, explodierte nicht. Die Passagiere der andern Maschinen, insgesamt 650, sowie die Besatzungen sitzen in der Wüste als Geiseln unter der Drohung, daß die Maschinen mitsamt Passagieren in die Luft gesprengt werden, wenn nicht sämtliche Palästinenser, die im Ausland wegen früherer Attentate rechtskräftig verurteilt sind, sofort freigelassen werden. Ultimatum 72 Stunden.
Verhör III
A.
Unser Verhör hat
Weitere Kostenlose Bücher