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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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schuld.
     
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    Das ist 1961, BONNE AUBERGE , Nachmittag zu zweit; hier spricht er zum ersten Mal von Politik, aber nicht literarisch, sondern beinahe helvetisch: Politik nicht als Utopie,sondern pragmatisch. Ich muß trotzdem zu einer eigenen Aufführung ins Schiller-Theater.
     
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    Hier schweigt er, Pause im Foyer.
     
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    Das ist am selben Abend, BONNE AUBERGE , der Hauptdarsteller fragt rundheraus: Sie sind drin gewesen? Schauspieler sind natürlich: von jedermann, der drin gewesen ist, erwarten sie Beifall, zumindest Kritik als Nettigkeit. Er dreht sich eine Zigarette, leckt dann das bräunliche Papier usw., kein Wort über die Aufführung (Lietzau) oder das Stück. Er mag nicht lügen.
     
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    Hier mit Kollegen, Gruppe 47.
     
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    Hier verstehe ich seinen schmalen Blick nicht. Zufällige Begegnung in Sperlonga, Italien. Es scheint zwischen uns etwas vorgefallen zu sein; da hilft keine Einladung ins Haus, kein Blick aufs nächtliche Meer. Hier spricht er als Richter in fremder Ehesache, aber nur kurz, denn ich werfe ihn hinaus. Er bleibt sitzen und sagt besonnen: Lassen Sie uns wenigstens diesen Grappa austrinken.
     
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    Hier, am andern Tag, spielen wir Boule am Strand.
     
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    Das ist wieder im Schiller-Theater, Berlin, eine Hauptprobe; außer dem Regisseur (Lietzau) und ihm, dem Autor, ist niemand da, viele Kamera-Leute, aber kein einziger seiner deutschen Kollegen.
     
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    Hier sieht man unter dem Schnurrbart nur die Unterlippe, den Mund erst, wenn er lacht; er lacht weniger ausfällig als früher.
     
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    Hier tanzt er gerade.
     
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    Hier sitzt er, auch als Koch berühmt, an unserem Tisch, errät jedes Gewürz; im übrigen anerkennt er die Küche, indem er ißt und von eigenen Rezepten berichtet, insbesondere für Innereien schwärmt er; auch Hoden, zum Beispiel, habe ich noch nie gegessen.
     
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    Hier steht er wohl in Frankfurt. Die junge Linke hat ihn ausgepfiffen; er dreht sich wieder eine Zigarette, dann leckt er langsam das bräunliche Papier usw., kein Geschlagener, er hat keine Angst vor Feinden, er sucht sie auf, dazu sind sie da.
     
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    Hier eine Silvester-Nacht im Tessin; andere sind übermütiger als er. Es ist nicht seine Art, alles plötzlich auf die leichte Schulter zu nehmen.
     
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    Hier steht er am eignen Herd, schmeckt ab; man sieht es von hinten, daß er sich in seinem Körper wohlfühlt.
     
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    Das ist in Zürich, er spricht zu tschechoslowakischen Schriftstellern, Freunden aus Prag, nach dem Einmarsch der Russen; hier hört er gerade zu, Hände in den Hosentaschen, Kopf gesenkt, ein Verantwortlicher, der auf praktische Hilfe sinnt.
     
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    Hier am Kamin: nicht familiär, nur entspannt. Auch dann schmeichelt er nicht und steckt nicht zurück. Wenn man getrunken hat, kommt er auf sein Thema zurück (Entwicklungshilfe). Ich könnte mir denken, daß Jeremias Gotthelf nicht minder hartnäckig war.
     
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    Hier spricht er zur Nation im Fernsehen. Ein Schriftsteller mit persönlicher Haftung. Er spricht der Nation ins politische Gewissen, das er voraussetzt.
     
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    Hier redet er über Literatur: Alfred Döblin.
     
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    Hier schwimmt er in der kalten Maggia. Wenn er aus dem Wasser kommt, wird er von Willy Brandt sprechen; er weiß, was man eben wissen müßte, nämlich Fakten, die jeden Gegner widerlegen; ich bin zwar kein Gegner.
     
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    Hier mit Gershom Scholem. Wenn jemand nicht auf sein Thema eingeht, zeigt sich seine große Belesenheit auf vielen Gebieten.
     
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    Soll ein Schriftsteller usw.? Seine Antwort: sein Beispiel. Kann einer als Wahlkämpfer eindeutig sein, als Schriftsteller offen bleiben? Das ist zu Hause; er liest vor.
     
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    Hier im Auto; er fährt nicht selber.
     
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    Hier streitet er öffentlich in einem großen Saal gegen Widersacher, gewöhnt an ihr Buh, standfest, aber behindert durch einen angeborenen Mangel an Zynismus; er debattiert beschlagen und unerschrocken, aber dann meint er immer, was er sagt.
     
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    Hier ist er nicht auf dem Bild zu sehen, aber wir sprechen von ihm, und insofern ist er da: stark genug, um Einträchtigkeit zu verhindern, nachdem sein Name gefallen ist.
     
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    Hier schweigt er unter vier Augen undurchlässig, nicht unherzlich, aber nicht willens, die Zone öffentlicher Thematik zu verlassen; er stellt auch keine persönliche Frage unter vier Augen,

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