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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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seinerzeit begonnen, als du die politischen Schriften von Leo Tolstoj wiedergelesen hast, seine bedingungslose Verurteilung jeder Gewalt. Du hast dich dieser Verurteilung damals nicht anschließen können. Die Bauern im zaristischen Rußland, so sagtest du damals, hatten kein anderes Mittel, um ihr Lebensrecht in Kraft zu setzen –
B.
Das meine ich nach wie vor.
A.
Wie waren deine Reaktionen auf die Luft-Piraterie der palästinensischen Freischärler, die ebenfalls meinen, daß sie kein anderes Mittel haben als die Gewalt, um ihr Lebensrecht zu verteidigen?
B.
Ich weiß von Landsleuten, die angesichts dieser Verletzung des Völkerrechts eine schweizerische Fallschirm-Operation bei Zerka für die einzig richtige Maßnahme halten. Andere hingegen, die Mehrheit, würden sich begnügen, wenn Israel diese militärische Aufgabe übernähme. Ich glaube, die Empörung ist allgemein. Die Schweizer ertragen kein Unrecht gegenüber Schweizern. In Thalwil bei Zürich soll eine brave Hausfrau eine andere Hausfrau, die sie wegen ihrer Hautfarbe für eine Araberin hielt, öffentlich zu Boden geprügelt haben mit einem Schirm –
A.
Ich frage nach deiner Reaktion.
B.
Als ich die Nachricht hörte, wunderte ich mich, wie leicht solche Entführungen immer wieder gelingen. Offenbar braucht es nur eine Pistole, dazu zwei Personen, die nicht um ihr Leben bangen, und alles funktioniert auf anderem Kurs. Es gibt eine Art von Missetat, die insgeheim auch fasziniert – was aber Empörung nicht ausschließt … Als ich die Nachricht hörte, war ich froh, daß ich nicht in dieser Maschine war. Das heißt: ich empfand Mitleid mit denPassagieren. Ferner erinnerte ich mich an die arabische Wüste bei Amman. Wir fuhren damals in einem Opel; eine Begleiterin, die versehentlich ihre Hand auf die Karosserie legte, hatte Brandwunden – so heiß kann es dort sein.
A.
Der Bundesrat ist auf das Ultimatum eingegangen, das heißt, er hat sich bereit erklärt, die drei arabischen Attentäter von Zürich zu entlassen –
B.
Es geht um schweizerisches Leben.
A.
Was hättest du als Bundesrat getan?
B.
Es hängt davon ab, wie heilig man das Recht einschätzt, das Recht als solches. Wäre es so heilig, wie es sich üblicherweise ausgibt, so wäre das Opfer von 143 Passagieren unumgänglich gewesen. Ich war enttäuscht und erleichtert.
A.
Wieso enttäuscht?
B.
Ich halte es für möglich, daß die Feddayin nicht vor einem Massaker zurückgeschreckt wären. Der Bundesrat mußte damit rechnen, daß sie die Maschine mitsamt den Passagieren und der Besatzung in die Luft sprengen – ich war enttäuscht, weil ich erzogen bin in dem Glauben, daß der Rechtsstaat, zumindest der schweizerische, nicht kapituliert.
A.
Und wieso erleichtert?
B.
Es scheint, daß es ohne Menschenopfer geht. Die Maschine ist zum Nennwert versichert. Die drei palästinensischen Attentäter in Zürich, nach unserem Recht verurteilt zu zwölf Jahren Gefängnis, werden auf freien Fuß gesetzt, sobald die Geiseln ebenfalls auf freien Fuß gesetzt werden, und können ihren Terror gegen den Luftverkehr jederzeit fortsetzen … Man verurteilt zwar die Gewalt, aber das rechtskräftige Urteil wird nicht vollstreckt; der Rechtsstaat kapituliert vor der Gewalt, sobald seine Gewalt nicht ausreicht. Was blieb dem Bundesrat anderesübrig? Übrigens hat nicht nur der schweizerische Rechtsstaat kapituliert, sondern auch der britische und der deutsche. Es blieb nichts andres übrig. Der Rechtsstaat nämlich setzt voraus, daß es ein Völkerrecht gibt. Um aber ein Völkerrecht in Kraft zu setzen, dürfte man es selber nicht verletzen; man dürfte nicht einmal Gewinne daraus ziehen, daß andere es verletzen. Ein Land beispielsweise, das Waffen liefert, und sei's bloß um des Geschäftes willen, gehört zum jeweiligen Kriegsschauplatz. Das ist ein Schock. Der Bundesrat, der den Waffenhandel nicht zu unterbinden gedenkt, ist in einer peinlichen Lage, wenn er sich aufs Völkerrecht beruft. Wer hätte an seiner Stelle anders handeln können? Man kann nicht Geschäfte machen mit dem Krieg, ohne sich seinem Gesetz unterwerfen zu müssen, Recht hin oder her: Es ging um die Geiseln in der Wüste von Zerka, um die Rettung von Menschenleben – auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit.
A.
Im Februar dieses Jahres explodierte eine Bombe in einer SWISSAIR -Maschine nach Israel. Es ist nicht erwiesen, aber wahrscheinlich, daß es sich um ein palästinensisches Attentat handelte. Alle Passagiere, 47, sowie die Besatzung kamen ums

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