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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sie der Puppe etwa den Kopf senkt, beide Hände vor das Gesicht legt. Es gibt auch Text-Pausen; alle schweigen, und es wird die Gestik verschiedenartigen Schweigens hergestellt, z. B. das beschämte Schweigen, das fordernde Schweigen, das gelangweilte oder das verstockte oder das erwartungsvolle Schweigen. Vielleicht wird dann der Text, der zu diesem Schweigen aller geführt hat, nochmals wiederholt. Eine Puppe, die sich laut Text plötzlich zum Anführermacht, wird in aller Ruhe nach vorne oder auf einen Sessel gestellt, ihre Hand zur Faust geballt, dann ihr Arm erhoben. Sie bleibt in dieser Gestik, obschon ihr der Text der andern nicht beistimmt. Dabei kann es vorkommen, daß die Puppe, sofern wir sie überhaupt noch beachten, in hohem Grad komisch wird; sie scheint nicht zu kapieren, was inzwischen vorgefallen ist. Anderseits kann es vorkommen, daß die Gestik einer Puppe, lange Zeit vollkommen sinnwidrig, plötzlich wieder mit dem Text übereinstimmt. Ihre Klage-Gestik bekommt recht, ihre Jubel-Gestik bekommt recht, und sie allein ist jetzt auf der Höhe des Bewußtseins. Der Text ist nuanciert; die Puppen verharren dazu in Grundmustern des Reflexes, reduzieren die Szene auf die wenigen Wendungen, die nicht verbal, sondern faktisch sind …

Album
    Hier ist er auf dem Album-Deckel, wie jedermann ihn kennt, der im letzten Jahrzehnt die deutsche Presse oder die übrige Weltpresse verfolgt hat.
     
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    Hier sein Werkverzeichnis.
     
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    Hier ist er noch jung, 1955, schnurrbärtig auf den ersten Blick. Die Schlägermütze trägt er bei Tisch natürlich nicht, hingegenein himbeerrotes Hemd, Kragen offen. Abend in einer Villa am Zürichberg. Er ist hier Neffe, nicht verschüchtert von dem bürgerlichen Porzellan und Silber, nur nicht zu haben für Konversation; da macht er sich nichts draus. Bildhauer. Was er von der derzeitigen Literatur hält, ist schon seit der Suppe ziemlich klar; ein neues Stück von Friedrich Dürrenmatt, BESUCH DER ALTEN DAME , sieht er sich gar nicht an. Er schreibe selber Stücke. Man speist vor sich hin. Da ich das freundliche Haus von früheren Besuchen kenne, trage ich eine Krawatte, was sich als Nachteil erweist, als ich kapiere, zu welchem Zweck ich heute eingeladen bin; ich kann mich nur gediegen wehren gegen den Hausherrn, als er ankündigt, der Neffe werde nachher vorlesen. Noch ist man bei Käse und Früchten. Der junge Mann, bisher in einer lauernden Haltung, scheint jetzt belustigt über die Verlegenheit des Älteren. (Ich bin an diesem Abend ungefähr so alt, wie er heute ist.) Er überläßt uns weiterhin die Konversation; er stellt keine Frage. Als man sich vom Tisch erhebt und eine Treppe hinaufgeht zum schwarzen Kaffee, nimmt er sein Manuskript, wartet auf dem zierlichen Sofa schweigsam, bis alle ihren Cognac haben. Ich wiederhole meine Bitte, das Stück zu Hause lesen zu dürfen. Immerhin erklärt er sich bereit, nur den ersten Akt zu lesen. Es gibt Leute, die ihr literarisches Urteil sofort formulieren können; dazu gehöre ich leider nicht, wie schon gesagt. Da seine Akte, wie ich zugeben muß, sehr knapp sind, liest er alle Akte. Ein trefflicher Vorleser; nachher fühlt er sich wohl, obschon ich wenig begriffen habe.
     
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    Das ist ein Jahr später. Hier sitzt er in meiner ländlichen Bude in Männedorf, wo ich auch keine Krawatte trage. Das neue Stück, das er zur Lektüre geschickt hat, gefällt auch mir. Mehrwill er eigentlich nicht wissen. Er kommt von Paris, wo er seinen Roman schreibt. Vormittags hatte ich die militärische Inspektion; Helm und Tornister und Gewehr liegen noch im engen Korridor. Später in Paris erzählt er belustigt von dem Schweizer, der jahrein und jahraus seinen Helm und sein Gewehr draußen im Korridor bereit habe.
     
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    Hier dreht er sich eine Zigarette, dann leckt er langsam das bräunliche Papier. Das ist in Berlin. Auf einen einzelnen Bewunderer ist er nicht mehr angewiesen. Er trägt seinen Ruhm als etwas, das vorauszusehen war.
     
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    Hier lacht er. Das bedeutet nicht Einverständnis, auch nicht Gemütlichkeit. Meistens lacht er nicht mit, sondern gegen.
     
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    Das ist wieder in Berlin. Eine Kneipe. Es gibt Bier und dazu einen Klaren, dann dasselbe. Dazu das Bewußtsein von geteilter Stadt, Danzig im Hintergrund, auch Mecklenburg, Kollegialität zwischen Wahl-Berlinern; es gibt wieder eine Literatur. Hier trägt er die Schlägermütze. Wer sich nicht in Berlin niederläßt, ist selber

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