Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
zweifeln Sie insgeheim an einer Freundschaft, die Sie sich allein durch Bewunderung, Treue, Hilfsbereitschaft usw. erwerben?
18.
Worauf sind Sie aus dem natürlichen Bedürfnis nach Freundschaft öfter hereingefallen:
a.
auf Schmeichelei?
b.
auf Landsmannschaft in der Fremde?
c.
Auf die Einsicht, daß Sie sich eine Feindschaft in diesem Fall gar nicht leisten können, z. B. weil dadurch ihre berufliche Karriere gefährdet wäre?
d.
auf Ihren eignen Charme?
e.
weil es Ihnen schmeichelt, wenn Sie jemand, der gerade Ansehen genießt, öffentlich als Freund bezeichnen können (mit Vornamen)?
f.
auf ideologisches Einverständnis?
19.
Wie reden Sie über verlorene Freunde?
20.
Wenn es dahin kommt, daß Freundschaft zu etwas verpflichtet, was eigentlich Ihrem Gewissen widerspricht, und Sie haben es um der Freundschaft willen getan: hat sich die betreffende Freundschaft dadurch erhalten?
21.
Gibt es Freundschaft ohne Affinität im Humor?
22.
Was halten Sie ferner für unerläßlich, damit Sie eine Beziehung zwischen zwei Personen nicht bloß als Interessen-Gemeinschaft, sondern als Freundschaft empfinden:
a.
Wohlgefallen am andern Gesicht
b.
daß man sich unter vier Augen einmal gehenlassen kann, d.h. das Vertrauen, daß nicht alles ausgeplaudert wird
c.
politisches Einverständnis grosso modo
d.
daß einer den andern in den Zustand der Hoffnung versetzen kann nur schon dadurch, daß er da ist, daß er anruft, daß er schreibt
e.
Nachsicht
f.
Mut zum offenen Widerspruch, aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit der andere gerade noch verkraften kann, und also Geduld
g.
Ausfall von Prestige-Fragen
h.
daß man dem andern ebenfalls Geheimnisse zubilligt, also nicht verletzt ist, wenn etwas auskommt, wovon er nie gesprochen hat
i.
Verwandtschaft in der Scham
k.
wenn man sich zufällig trifft: Freude, obschon man eigentlich gar keine Zeit hat, als erster Reflex beiderseits
l.
daß man für den andern hoffen kann
m.
die Gewähr, daß der eine wie der andere, wenn eine üble Nachrede über den andern im Umlauf ist, zumindest Belege verlangt, bevor er zustimmt
n.
Treffpunkte in der Begeisterung
o.
Erinnerungen, die man gemeinsam hat und die wertloser wären, wenn man sie nicht gemeinsam hätte
p.
Dankbarkeit
q.
daß der eine den andern gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird
r.
Ausfall jeder Art von Geiz
s.
daß man einander nicht festlegt auf Meinungen, die einmal zur Einigkeit führten, d.h. daß keiner von beiden sich ein neues Bewußtsein versagen muß aus Rücksicht? (Unzutreffendes streichen.)
23.
Wie groß kann dabei der Altersunterschied sein?
24.
Wenn eine langjährige Freundschaft sich verflüchtigt, z. B. weil die neue Gefährtin eines Freundes nicht zu integrieren ist: bedauern Sie dann, daß Freundschaft einmal bestanden hat?
25.
Sind Sie sich selber ein Freund?
Theater mit Puppen? Ohne Physiognomie; sie sind etwas größer als ein Mensch. Ihre lapidare Gestik wird von einer Bühnenperson (stumm, Arbeitskleidung) während der Szene eingestellt. Manchmal bleibt eine Gestik, wenn sie dem Text gar nicht mehr entspricht. Zum Beispiel der zürnende Kläger mit ausgestrecktemArm, Finger gegen den Verklagten: wenn dessen Unschuld schon erwiesen ist. Oder umgekehrt: die Gestik empörter Unschuld, nachdem der Text ihn längst überführt hat. Es schadet auch nichts, wenn eine Puppe einmal umfällt, eine Zeitlang liegenbleibt, bis der Text sie wieder braucht: ihre Gestik großen Jubels. Da die Puppen sich nicht selber bewegen und bedient werden müssen, kommt ihre Gestik immer wieder in Verzug. Während die Nachricht eintrifft, daß zum Jubel leider kein Grund ist, im Gegenteil, daß der Ersehnte nie wiederkehren wird, bleibt die Puppe mit der Gestik großen Jubels. Die Bühnenperson arbeitet nach einer Partitur, die sie in der Hand hält, ohne Teilnahme und ohne Hast, aber exakt, sei es, daß sie die Gestik einer Puppe vorbereitet, ehe der Text sie begreiflich macht, oder daß sie erst nachträglich dazu kommt, die vermißte Gestik einzustellen. Sie selber, die Bühnenperson, so unauffällig wie möglich; man vergißt sie wie einen Kellner, wenn alles klappt. Text über Lautsprecher; er ist so zu verfassen, daß wir ohne Mühe erraten, welcher Puppe der jeweilige Text unterstellt ist. Während ihr ein Text unterstellt ist, wird die betreffende Puppe nicht bedient; die Bühnenperson wartet das Ende eines klagenden Textes ab, bevor
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