Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Leben –
B.
Damals hatte der Bundesrat nichts mehr zu entscheiden. Es genügte die tiefe Trauer. Das ist der Unterschied; diesmal hatten wir zu entscheiden. Sollen 143 Passagiere und dazu die Besatzung sterben für die Rechtsstaatlichkeit? Die Antwort aus Bern scheint mir klar: das bestehende Recht ist nicht heiliger als das Leben. Das wiederum meinen die Revolutionäre auch.
A.
Inzwischen sind die Maschinen gesprengt worden –
B.
Aber die Geiseln leben.
A.
Was hast du daraus gelernt?
B.
Das bestehende Recht ist offenbar kein absolutes Recht,sonst könnte die Behörde, ob Bund oder Kanton, nicht je nach Umständen verzichten auf den Vollzug eines rechtskräftigen Urteils. Man hätte Menschen dafür zu opfern, es ginge nicht ohne Tragödie, nicht ohne das Opfer … Ich habe gelernt: unser bestehendes Recht ist ein menschliches Recht. Diese Einsicht verdanken wir der Gewalt, auch wenn wir sie verurteilen.
A.
Wie kannst du erleichtert sein?
B.
Ich verstehe die Empörung. Man ist immer empört, wenn es nicht genügt, im Recht zu sein. Vermutlich meinen auch die palästinensischen Flüchtlinge, im Recht zu sein, und sie sind empört, daß es nicht genügt, im Recht zu sein.
A.
Einmal angenommen, du wärest in dieser DC-8 gesessen, Flugnummer SR 100, um nach New York zu fliegen: Was kannst du für die Lebensverhältnisse der palästinensischen Flüchtlinge?
B.
Geiseln sind meistens unschuldig.
A.
Meinst du, daß mit der attentäterischen Gefährdung des friedlichen Luftverkehrs, wobei es auch schon Todesopfer gegeben hat, die Lebensverhältnisse der palästinensischen Bevölkerung zu verbessern sind?
B.
Das wird verneint.
A.
Und was meinst du?
B.
Immerhin muß ich gestehen, daß mich die palästinensische Sache vorher kaum beschäftigt hat.
A.
Braucht es also ein Verbrechen, damit dich eine Sache beschäftigt? – oder hältst du Dr. Habasch, der diesen Terror gegen den Luftverkehr leitet, nicht für einen Verbrecher?
B.
Es kommt darauf an, wen wir sonst noch als Verbrecher bezeichnen. Ich habe die Kommentare gelesen. In der Sprachreglung unserer Presse ist Terror immer eindeutig: Erpressung durch Gewalt – von Seiten der Unterdrückten.
A.
Und was hältst du für Terror?
B.
Erpressung durch Gewalt.
A.
Du bist für den Rechtsstaat.
B.
Ich bin für den Rechtsstaat.
A.
Trotzdem scheust du dich vor der Verurteilung der Gewalt. Sie erschreckt dich, und zugleich bist du erleichtert, daß unsere Behörde, wie du sagst, kapituliert hat vor der Gewalt.
B.
Um den Eindruck zu löschen, daß der Rechtsstaat sich unter Umständen beugt vor der Gewalt, ist ja bereits überlegt worden, ob und wie man die verurteilten Attentäter in Zürich einfach begnadigen könnte; das soll den Glauben wieder herstellen, es sei mit Gewalt nichts zu erreichen – tatsächlich aber genügt, wie wir sehen, eine Pistole im Cockpit.
A.
Daß ein Recht außer Kraft gesetzt worden sei, um die Geiseln aus der Wüste zu befreien, stimmt natürlich nicht. Das Strafrecht, nach welchem damals die Attentäter von Zürich verurteilt worden sind, ist durch die bundesrätliche Bereitschaft, Verbrecher zu tauschen gegen Geiseln, weder aufgehoben noch abgeändert. Der Bundesrat handelte im Notstand: im Notstand geht Menschenleben vor Recht.
B.
Einverstanden.
A.
Bejahst du die Gewalt: Ja oder Nein?
B.
Es gibt eine Recht-erhaltende Gewalt, ohne die auch der Rechtsstaat nicht auskommt, und es gibt eine Recht-schaffende Gewalt; die letztere antwortet auf die erstere, aber die erstere ist immer hervorgegangen aus der letzteren.
A.
Bejahst du die Pistole im Cockpit?
B.
Es steht mir nicht zu, die Pistole im Cockpit zu verurteilen, weil ich ohne sie auskomme. Was ich zum Leben brauche, habe ich ohne Gewalt, das heißt, ich habe es durch die Recht-erhaltende Gewalt. Andere sind in einer anderen Lage; meine Recht-Gläubigkeit ernährt sie nicht, kleidet sie nicht,behaust sie nicht, versetzt sie nicht in den Luxus, auszukommen ohne Gewalt.
A.
Willst du also sagen, daß die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt ist, wenn es ohne Gewalt nicht geht?
B.
Es kommt darauf an, was ohne Gewalt nicht geht … Ich befinde mich nicht in der Lage, die eine Anwendung von Gewalt rechtfertigt.
A.
Es geht aber nicht um dich.
B.
Eben.
A.
Du hast gestanden, daß Akte der Gewalt dich entsetzen. Du bist aber noch immer nicht bereit, die Anwendung von Gewalt grundsätzlich zu verurteilen –
B.
Es steht mir nicht zu.
BERZONA
Überfall am Abend. Wer seid Ihr? Dabei sehe ich's: Die Jugend.
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