Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
etwas spricht er aus. Die Frau, sagt er öffentlich, sei ihrem Wesen nach konservativ. So etwas glaubt er tatsächlich noch. FREE OUR SISTERS , da macht er wieder mit, wenn sie im Gefängnis sind. Ich sei ja frei. Und wenn ichdrohe, daß ich ihn verlasse? Plötzlich kommt er mit Strindberg, was für mich das Letzte ist, die Briefe ausgenommen. Helen sagt: wir müssen nicht diskutieren, wir müssen Fakten schaffen. Jetzt schnarcht er, dieser einunddreißigjährige Patriarch, einverstanden mit Norman Mailer, den ich nicht lesen werde. Man weiß seit dreitausend Jahren, wie sie denken. Sie haben nichts dazu gelernt. Joe jedenfalls nicht. Gertrude Stein findet er groß, aber er würde sie nicht aushalten, sage ich; schon mit mir hält er's kaum aus. Jetzt schnarcht er, weil er, sobald er schläft, den Mund nicht schließen kann – wie ein Baby.
NEW YORK, Februar
Die amerikanische Television (Channel 2) sowie die NEW YORK TIMES melden heute, 8. 2. 1971, daß in der Schweiz, »world's oldest democracy«, gestern das Frauenstimmrecht eingeführt worden ist.
NEW YORK, März
Man erwacht, geht auf die Straße und überlebt. Das macht fröhlich, fast übermütig. Es braucht nichts Besonderes vorzufallen; es genügt die Tatsache, daß man überlebt von Alltag zu Alltag. Irgendwo wird gemordet, und wir stehen in einer Galerie, begeistert oder nicht, aber gegenwärtig, und es ist nicht gelogen, wenn ich antworte: THANK YOU, I AM FINE!
Um 03.30 erwacht wegen einer Detonation. Doppelknall durch Echo. Wenige Minuten später die Polizei in der andern Straße; ich bin zu müde, um lang am Fenster zu stehen; auch sieht man ja nichts, nur an den Fassaden diesen Widerschein des blauen Kreisellichts. Im Halbschlaf meine ich: jemand hat jemand niedergeschossen. Stimmen. Dann ein Geräusch, das fast eine Stunde lang anhält: Glas, das in Scherben fällt, und Scherben, die geschaufelt werden. Schlafen gelingt nicht; wenn ich die Augen aufmache: an der Zimmerdecke noch immer das Kreisellicht von den Polizei-Wagen, bis ichdoch einschlafe … Es war in der NEW SCHOOL an der 11. Straße, eine kleinere Bombe, Zerstörung im Vestibül; im Foyer, wie täglich, die Schüler (Erwachsene) an der Bücherausgabe. Als ich den Türmann frage nach dem möglichen Bombenzweck, zuckt er die Achsel. Nichts Neues. Das kommt vor.
Im FILLMORE-EAST, vor einem Jahr, wurde plötzlich eine psychedelische Lichtschau unterbrochen, ein Rocker trat an die Rampe mit der Bitte, wir möchten unter den Sesseln nachsehen, ob irgendwo eine Bombe liege. Es sei ein Anruf gekommen. Das Theater faßt 2884 Zuschauer. Die meisten beugten sich kurz, um unter ihren Sessel zu gucken, wie wenn eine Dame ihre Handtasche vermißt; andere blieben in ihren Sesseln liegen, offensichtlich in Trance. Nach drei Minuten setzte die Band wieder ein. Ich fragte den jungen Nachbarn mit Jesus-Haar und lieben Augen, wieso eine Bombe gerade hier. Antwort: »For no rational reason«, und als ich noch nicht verstand: »You know, in these days –«.
Seminar über Erzähler-Position:
a)
Homer
b)
Evangelisten
c)
Don Quixote
d)
Anna Karenina
e)
heute.
Wo politisch nichts zu machen ist: Sekten aller Art, Krischna-Kinder usw., Eklektizismus der Heilslehren. Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand; aber man kann ihn schmücken mit dem bunten Indios-Bändel. Sie sehen malerisch aus. Was ein revolutionärer Impuls gewesen ist, verkommt in Verinnerlichung, Verwahrlosungdes Willens, Verwahrlosung des kritischen Bewußtseins. Wäre nicht die wachsende Kriminalität infolge Drogensucht, die Macht-Inhaber brauchten sich nicht zu sorgen: ihre revolutionären Kinder zerstören sich selbst.
Gestern in der Nachbarschaft (9. Straße) ein junger Mann ermordet. Heute wieder unter Soziologen. Es gibt wenig, was sie nicht sofort in ihre Sprache übersetzen. Der Mensch hat die Wahl zwischen Lehren.
Wanderung nach der Tagesarbeit durch das Dickicht der Städte, »von denen bleiben wird, der durch sie hindurchging: der Wind –« er fegt und wirbelt den Kehricht durch die Straßenzüge, die aussehen wie nach einer Schlacht. Rost und Vergammelung, Häuser als Unrat. Anderswo sprießen neue Hochhäuser, nicht weit von hier. Trotz der Öde in diesen Straßen hat man keine Angst; ab und zu eine Limousine. Die Angst wohnt dort, wo auf Spannteppich der Türhüter steht mit weißen Handschuhen. Hier keine Verkehrsampeln, man kann wirklich wandern. Ein blauer Abend; Flugzeuge
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