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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ziehen ihren braunen Schleier von Düsen-Gift über Manhattan. Hier ist nicht einmal Slum; Ruinen am Rand der Verzinsung, es lohnt sich da der Abbruch nicht; das Kapital verzinst sich zurzeit anderswo. Hier ist nur Boden, Eigentum an Boden, den die Natur sich zurückholt mit Unkraut. Lagerschuppen von einst, sie sind längst eingestürzt, teils ausgebrannt. Nicht einmal Hunde machen sich hier noch eine Hoffnung. Eine Hochstraße; daran sieht man, daß man in der Weltstadt ist und nicht am Ende der Zeit. Ich weiß nicht, was es ist; alles zusammen macht mich fröhlich, wenn ich hier wandere. Wir kommen ans glitzernde Wasser,aber aus der Nähe ist es eine schwärzliche Kloake, Kähne mit Bagger gegen die Verschlammung; Namen erinnern noch an die Holländer, die einmal hier gelandet sind; die Mole ist verfault, Sonnenuntergang hinter braunem Rauch.
     
    Wenn es klingelt, öffne ich einfach die Türe. Noch immer nichts gelernt. Mann mit Werksack, den ich frage, was er wünsche; und als ich ihn nicht verstehe, tritt er ein. WINDOWCLEANER! Er putzt zehn Minuten lang, verlangt 9 Dollar. Vermutlich schickt ihn die Hausverwaltung. Nachher höre ich, daß ich Glück hatte; aber er hat tatsächlich nur Fenster geputzt.
     
    Man weiß von den Kriegsverbrechen durch Zeugen, die im Fernsehen (Channel 13) befragt werden und berichten, was sie in Vietnam verrichtet haben unter der Order: Es werden keine Gefangenen gemacht. FREE FIRE ZONE: es darf alles getötet werden, inbegriffen Kinder. Belohnung für drei getötete Vietnamesen: eine Woche Urlaub am Meer. Als Beleg dafür, daß man Tote gemacht hat, bringt man Ohren oder Genitalien. Keiner der Zeugen, die ihren Namen und ihren jetzigen Wohnort angeben, kann sich erinnern, daß jemand für Schändung an Gefangenen bestraft oder auch nur verwarnt wird. Die öffentliche Versammlung leitet ein Columbia-Professor für Rechtslehre. Wenn nicht getötet wird, so nur aus einem einzigen Grund: zwecks Verhör, wobei jede Art von Folter vorkommt, übrigens auch sexuelle Befriedigung an Frauen und Männern, bevor sie erschossen werden. Die Vorkommnisse, von den jungen Zeugen als übliche Vorkommnisse geschildert, werden datiert: 1967, 1968, 1969, 1970. Obschon sie jetzt aus einem andern Bewußtsein sprechen(alle sehr sachlich), bleibt ihnen, wenn sie von Vietnamesen sprechen, der Ausdruck: THE GOOK. Auf die Frage von Presseleuten, ob ihnen der verbrecherische Charakter solcher Kriegführung bewußt gewesen sei, geben alle zu: man gewöhne sich bald daran. Was geschieht, wenn einer nicht mitmacht? Der junge Mann, jetzt kaufmännischer Angestellter, zuckt die Achsel: Strafversetzung, ein weiteres Halbjahr in Vietnam. Man werde eben ein Tier. Es ist ihren Gesichtern nichts anzusehen davon. Im allgemeinen werden die Gefangenen von vorn erschossen, aber zur Abwechslung kann man sie auch an einen Helikopter binden und aus einer gewissen Höhe fallen lassen. Ein alter Herr protestiert gegen die Zeugen: Sein Sohn, sein einziger Sohn, sei in Vietnam gefallen, er wollte den Dienst verweigern damals, aber er, der Vater, habe ihm gesagt, daß er für sein Land und für die Freiheit kämpfe, und das habe er getan, sein einziger Sohn. Dann weint er. Der Vorsitzende bittet um weitere Fragen –

Wall Street
    Lunch im sechzigsten Stock … Schon im Lift (Türen in Chrom oder Messing?) lauter Herren zur täglichen Arbeit gekleidet wie zu einem Konzert: dunkelgrau bis schwarz, kaum blau. Trotz Gedränge im Lift (es ist gerade Mittagspause) Physiognomie der unverbrüchlichen Korrektheit. Ihre Haut ist glatt-rosig und meistens straff, ihr Blick sehr wach, ihre Stimme nicht sanft, aber gediegen-männlich; ein gelegentliches Lachen kann kräftig ausfallen, jungenhaft im Gegensatz zu ihren sehr gelassenen Gesten. Auch mit den Händen in den Hosentaschen sind sie Herren.Empfang in der Lobby:
    Ich habe es zum Schriftsteller gebracht, daher diese Einladung, die andern sind Herren vom diplomatischen Dienst, wir blicken gemeinsam auf die niedrigeren Wolkenkratzer von Wall Street zwischen den beiden Flüssen, sofort einig: Ein grandioser Blick. Unser Gastgeber, obschon an diesen Blick gewöhnt, läßt uns Zeit zu staunen. Leider ein dunstiger Tag; sonst sähe man auch Brooklyn usw. Wer hier zum Lunch antritt, muß schwindelfrei sein; Leute in den Straßen, wenn man hinunter schaut, bewegen sich wie Maden oder Läuse. Eigentlich muß man nicht hinunterschauen. Spannteppich, Glas, Blattpflanzen. Hier ist es still: Manhattan

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