Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
als Panorama hinter Glas. Lauter Herren treffen hier lauter Herren, eine intakte Welt, übrigens keine alten Herren, kein Dicker außer mir; offensichtlich haben sie wenig Zeit, dennoch keine Hast. Sie sind an das Bewußtsein gewohnt, daß ihre Zeit sehr kostbar ist. Ich bin nervöser; man wagt hier nicht zu zweifeln. Die Unterstellung, daß man irgendwie einverstanden sei, ist lautlos wie das Gehen auf Spannteppich. Nur meine Hose, Manchester ohne Bügelfalten, paßt nicht so recht; das erhöht aber die Ehre meiner Zulassung. Man geht gruppenweise zum Lunch. Chambre séparée mit einem runden Tisch, Kunst an der Wand, wieder Ausblick auf Manhattan. Leider ein dunstiger Tag, aber das sagten wir einander schon; immerhin sieht man die Freiheits-Statue. Es gibt Wasser mit Eis, keinen Alkohol; die Finanz hier ist puritanisch, dabei munter. Neuigkeit vom Tag (nebenbei): die russische Zaren-Familie sei nicht umgebracht worden, sie lebe noch heute, heißt es, irgendwo in Amerika. Wenn das stimmen sollte, so handelt es sich um Vermögenswerte, die in London liegen, Millionen von alten Rubeln. Das Menü weiß ich schon nicht mehr. Vier der Gäste sind Deutsche; die Frage: wer wird Kanzler, Barzel oder Schröder? Dabei kein unartiges Wort gegen Bundeskanzler Willy Brandt; man hältes für möglich, daß die sozialdemokratische Regierung sich hält bis zu den Wahlen. Trotz der Ost-Politik. Es sei denn, daß sie vorher an der Wirtschaft strauchelt. Franz Joseph Strauß kommt nicht ins Gespräch, obschon er neulich hier war und von zwei Dirnen ausgeraubt wurde. Schröder liegt im Rennen vor Barzel, so höre ich und kann dem amerikanischen Gastgeber versichern, daß mich das Thema durchaus nicht langweilt; die Herren wissen viel, was man als Zeitungsleser nicht ohne weiteres weiß. Die Kunst, die THE CHASE MANHATTAN BANK sammelt, habe ich schon bemerkt. Liechtenstein, Lindner, Dine, Fontana, Glarner, Bonnard, Dali, De Koning, Sam Francis, Hartung, Segal, Albers, Calder, Goya, Vasarely, Steinberg, Pomodoro, Beckmann, Nevelson usw. kenne ich aus Galerien. Was mich mehr überrascht: daß von einem USA-Imperialismus nicht die Rede sein kann. Habe ich etwas gesagt? Nach den Erfahrungen in Indochina sei eher zu befürchten, daß das amerikanische Volk wieder zum Isolationismus neigt, d.h. daß die amerikanische Hilfe in Latein-Amerika sich vermindern könnte. Was dann? Über Theater habe ich wenig zu berichten. Wenn Imperialismus, dann mache ihn die UdSSR (was ich nicht bestreite) und verliere Unsummen in den arabischen Ländern, wie der Gastgeber sagt: Zum Glück. Eigentlich ist das nicht unser Lunch-Thema. Wir haben keins. Zum WORLD TRADE CENTER im Bau, 432 Meter hoch, ist auch nicht viel zu sagen, obschon es vor dem Fenster steht; es holt 85 000 weitere Pendler herein, Leute, die ihre Lebenskraft im täglichen Verkehr verbrauchen. Wer sollte das verhindern können? Dann habe ich immer die Frage an die Fachleute: Warum ist Gold eine Deckung? Was vermag Gold, verglichen mit Öl oder Arbeitskraft usw.? Die Antwort fällt verschieden aus; einmal sagte ein schweizerischer Bankier, Gold sei ein reiner Mythos. Heute die Antwort: nichts in unserer Welt sei sicher außer Gold, das seit Menschengedenkenseinen Wert bewahrt und bewahren wird. Wieso? Wirtschaft ohne Gold sei nur denkbar mit einer Staatswirtschaft, also Diktatur; die freie Wirtschaft hingegen verlangt einen Hort, Stabilität, auch eignet sich Gold (nicht zu vergessen) für Juwelen usw. Mein Unverständnis ist der Unterhaltung nicht förderlich. Was ich zurzeit schreibe? Daß es unter den Hippies auch Idealisten gebe, bestätige ich ohne Umschweife; auch daß die Schweiz keine Unruhe hat. Wir speisen mit Pausen. Es wäre tolpatschig, Vietnam zu erwähnen. Sie wissen mehr. Keiner an diesem Tisch repräsentiert die Macht; sie sind nur eins mit ihr, insofern klug. Befragt nach den Erfahrungen mit »meinen« Studenten, kann ich versichern, sie sind artig, keine Kontestation. Ich nehme Kaffee. Am andern Bogen unsres Tisches sind sie gerade bei Japan: Eroberung des Marktes durch niedrige Preise, aber auch in Japan werden die Löhne steigen. Sie wissen Zahlen. China? Sie wissen Zahlen. Sie sind sicher, daß es in der Weltgeschichte keine andern Motive gibt als Profit. Leider gibt es keine Zigarren, auch müssen die Herren wieder an die Arbeit. Ich bedanke mich redlich; es war interessanter für einen Schriftsteller, als sie meinen. Der Gastgeber läßt es sich nicht nehmen und bringt uns
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