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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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denn? Ein Motorrad. Oder was leichter mitzunehmen wäre: ein Foto-Apparat. Aber ich fotografiere nicht, meine Gefährtin auch nicht, meine Kinder haben schon einen. Aber es ist der beste Foto-Apparat, den es in der Sowjetunion gibt. Also ich muß. Boris bringt mich hin. Daß ich unterwegs nochmals nach dem Haus von Isaak Babel frage, mußte es sein? Im Warenhaus, wo Boris mich hinführt, wäre ich ohne Boris verloren; er hat einen Ausweis, der das Fräulein endlich zur Bedienung nötigt, die trotzdem mürrisch bleibt. Was der Herr aus dem Westen da kauft, zieht einige Leute an; ich verstehe nichts von Foto-Apparaten, das Fräulein noch weniger; aber Boris versichert, daß es funktioniert. Ich zweifle nicht daran, nur müßte es mir jemand erklären. Boris erklärt mir etwas anderes: sie ist sehr glücklich, wissen Sie, jetzt hat sie ihr Tagessoll erfüllt, sogar mehr. Ich glaub's, auch wenn das Fräulein nicht grüßt; Boris bringt die Rubel zur Kasse. Erledigt. Die letzten paar Rubel versaufen wir schon noch am Flughafen … In Warschau, als ich von der Begegnung auf dem Fußballplatz von Odessa erzähle, komme ich nicht weit; sie lachen: die heißen meistens Boris. Mag sein. Unser Boris war sympathisch.

Warschau
    Es wäre wenig zu haben, wenn man danach verlangen würde, und trotzdem der Eindruck: sie leben besser als die Russen. Sie haben Selbstironie. Was sie ins Schaufenster stellen: Geschmack ohne Ware, Fantasie, Grazie. Das wirkt fast wie Übermut.
     
    Wo 1948 nur Trümmer und Schutt zu sehen waren – ich erinnere mich an Wiska, die uns damals führte, und an unsereAuseinandersetzung, ob es denn sinnvoll sei, die historischen Fassaden wieder herzustellen; heute gebe ich ihr recht: auch die Attrappe setzt Patina an. Ich sitze auf dem öffentlichen Platz in einem Biedermeier-Fauteuil, nämlich es werden hier gerade Möbel verladen, und das junge Foto-Mädchen hat mich in diesen Fauteuil gesetzt; sie hat recht: 20 Jahre seit meinem letzten Besuch – man kommt sich schon historisch vor.
     
    Er ist nicht einverstanden nach Art der Parteigenossen, Erbe eines königlichen Namens, geboren als Größtgrundbesitzer, damals verschrien als Der Rote Prinz, unter Hitler jahrelang im KZ. Beim Mittagessen im Schriftstellerverband (er übersetzt aus dem Deutschen, zurzeit gerade Musil) erzählt er, daß er die Bauern seines ehemaligen Großgrundbesitzes öfter besucht: sie leben nicht gut, nein, aber besser als je zuvor. Er ist Katholik. Einigen gehe es schlechter als früher, aber er ist dafür, daß es 90 Prozent der Leute besser geht.
     
    Chinesen am Flughafen, eine Delegation in Mao-Jacke. Sind wir für sie ebenso undurchsichtig wie sie für uns? Ein Bekannter aus der Schweiz, Professor, der hier einen wissenschaftlichen Kongreß besucht hat, spricht mich an, findet Warschau arm, dreckig, trostlos usw.
     
     
    ZÜRICH
     
    In einer kleinen Wirtschaft (Wolfbächli) bringe ich den jüngeren Mann gegenüber, der Spiegeleier ißt, langsam ins Gespräch. Malermeister mit sechs Angestellten, Aufträge genug, heute Nachtarbeit. Über allerlei Umwege (Tarife für Nachtarbeit, Sport, die Herren Architekten, Spritzverfahren, die Fremdarbeiterusw.) endlich zum Punkt: Welche Arbeit macht Ihnen am meisten Lust? Ich würde lieber eine Wand malen als Fensterrahmen, lieber bunt als das fade Ton-in-Ton. Wie ist das? Er versteht die Frage nicht. Renovationen oder Neubauten, was macht er lieber? Man macht eben beides, heute nacht eben eine Renovation. Graust ihm vor Nachtarbeit? Das muß eben sein. Da er der Boß ist und somit wählen kann, was er selber macht, frage ich: Welchen Teil der Arbeit wählen Sie? Grundieren denke ich mir langweilig, das Ablaugen alter Farbe noch langweiliger. Was macht mehr Lust, Streichen mit Pinsel oder Spritzverfahren? Seine Spezialität, sagt er, ist Hartlack; dabei komme er auf seine Rechnung. Also zurück zu den heutigen Tarifen; nach und nach erfahre ich seinen Jahresumsatz, sogar sein eignes Einkommen im Durchschnitt, nachdem ich geschworen habe, daß ich kein Steuerspitzel bin. Sein Einkommen ist nicht großartig, aber anständig; er hat seine festen Kunden; aber Arbeiter zu finden, die eine saubere Arbeit liefern, ist heutzutage schwer, und dann haut einer wieder ab oder macht einen blauen Montag, alles nicht leicht, die Termine, die Preise fürs Material, wenn gepfuscht wird usw. Zurück zu meiner Frage: Was in Ihrem Beruf macht Ihnen manchmal Lust? Seine Auskunft: Spritzverfahren ist

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