Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dich offenbar das Phänomen der Gewalt –
B.
Und der Gegengewalt.
A.
Tolstoj verwirft beides.
B.
Und zweitens?
A.
»Jede Revolution beginnt in einem Augenblick, wo die Gesellschaft der Weltanschauung entwachsen ist, auf die sich die bestehenden Formen des gesellschaftlichen Lebens gründen, wo der Widerspruch zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte und könnte, der Mehrzahl der Menschen so klar wird, daß es ihnen unmöglich erscheint, ihr Leben unter den bisherigen Bedingungen fortzusetzen.«
B.
Das ist ein guter Satz.
A.
Glaubst du an Revolution?
B.
Wo?
A.
Hier eine andere Stelle, die du angestrichen hast: »Der Sinn der Revolution, die jetzt in Rußland beginnt und in der ganzen Welt bevorsteht, liegt nicht in der Trennung der Kirche vom Staat oder der Erwerbung gesellschaftlicher Unternehmungen durch den Staat, nicht in der Organisation der Wahlen oder der scheinbaren Beteiligung des Volkes an der Macht, nicht in der Errichtung der allerdemokratischsten, meinetwegen sogar sozialistischen Republik mit allgemeinem Stimmrecht, sondern – in der wirklichen Freiheit.«
B.
Was ist das?
A.
»Eine nicht nur scheinbare, sondern wirkliche Freiheit wird nicht durch Barrikaden erreicht, nicht durch Mord, nicht durch was für immer mit Gewalt eingeführte Einrichtungen, sondern nur dadurch, daß man aufhört, irgendeiner menschlichen Gewalt, möge sie heißen, wie sie wolle, Gehorsam zu leisten.«
B.
Ich glaube nicht an die Anarchie.
A.
Dann wärest du also nicht einverstanden mit dieser Stelle, die du auch angestrichen hast: »Zu der Befreiung der Menschenvor dem furchtbaren Übel der Rüstungen und Kriege, unter dem sie gegenwärtig zu leiden haben und das immer mehr und mehr wächst, sind nicht Kongresse, nicht Konferenzen, nicht Traktate und Schiedsgerichte nötig, sondern die Vernichtung jener Gewalt, die sich Regierung nennt und von der die größten Leiden der Menschheit herrühren.«
B.
Sätze wie diesen, und davon gibt es ja bei Tolstoj viele, habe ich angestrichen, weil sie mir zum Bewußtsein bringen, wie brav ich bin, wie staatsgläubig.
A.
Immerhin sinnst du auf Veränderung.
B.
Der Rechtsstaat, so würde ich meinen, schließt nicht aus, daß das Recht, dem seine Maßnahmen dienen, zu ändern ist, wenn die geschichtliche Entwicklung das verlangt. Das bestehende Recht beispielsweise schützt das Eigentum. Wer mehr Eigentum hat als alle andern, hat nicht mehr Rechte, aber Macht durch Recht. Wieso lieben diesen Rechtsstaat gerade die Starken? Die Notwendigkeit, Recht zu ändern, ist immer zuerst eine Notwendigkeit für die Schwächeren und nicht für die andern, denen das Recht ermöglicht, scheinbar ohne Gewalt zu herrschen, indem ihre Macht durch Eigentum ja eine rechtmäßige ist.
A.
Du sagst: scheinbar ohne Gewalt.
B.
In der Tat geht es heute und hier vollkommen friedlich zu. Das ist wahr. Die Macht, die sich auf unseren Gehorsam stützen kann, ist nie oder fast nie gewalttätig, und solange das Recht, das den einen die Macht über die andern verleiht, nicht in Frage gestellt wird, leben die Schwächeren vollkommen unbehelligt.
A.
Was verstehst du unter Macht?
B.
Kapital.
A.
Du bezeichnest dich als Demokrat. Das heißt, du anerkennst, daß der Wille der Mehrheit den Ausschlag gibt.Wie die Wahlen und Abstimmungen zeigen, will aber die Mehrheit keine Veränderung.
B.
Die Mehrheit sind eben die Schwächeren, und das verwundert mich nicht: die Schwächeren wollen unbehelligt sein. Sie wissen schließlich, daß sie die Schwächeren sind, sobald die Macht sich herausgefordert oder gar bedroht fühlt, also gewaltsam wird. Die Macht verfügt über Militär. Wenn die Schwächeren, obschon sie die Mehrheit sind, einer Minderheit ihre Macht bestätigen, so heißt das: die Mehrheit ist abhängig von dieser Minderheit.
A.
Das verstehst du unter Demokratie?
B.
Nein.
A.
Hier eine andere Stelle bei Tolstoj: »Das Wesen des Irrtums aller nur möglichen politischen Lehren (der konservativsten wie der fortschrittlichsten), welche die Menschen in diese elende Lage gebracht haben, ist stets dasselbe – es besteht darin, daß die Menschen dieser Welt es für möglich hielten und noch halten, die Menschen so durch Gewalt zu vereinigen, daß sie sich ohne Widerspruch einer und derselben Lebensordnung und den aus derselben entspringenden Gesetzen der Lebensführung fügen.« Und weiter: »Es ist verständlich, wenn Menschen, ihrer Leidenschaft folgend, andere Leute, die nicht mit ihnen einverstanden sind,
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