Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Er bleibt sitzen. Wir müssen die Jugend verstehen, meint er, als der Kellner gegangen ist; wörtlich: »Die Jugend fragt uns natürlich, wie die Stalin-Zeit möglich gewesen ist, ob wir damals Verbrecher oder Idioten gewesen sind, und darauf ist schwierig zu antworten –«
     
     
    DIAVOLEZZA
     
    Die Gefährten sind bereits bei der Abfahrt, da sie die Piste dreimal genießen möchten; man wird sich später auf dem Bernina-Paß treffen. Beim Anschnallen der Skier schon ein kurioses Gefühl; nicht Sorge, denn die Abfahrt ist nicht schwierig, der Schnee wie gewünscht. Es geht denn auch ohne Sturz, trotzdem bleibt das kuriose Gefühl. Was ist anders als früher? Vielleicht macht es die Brille; also halte ich auf der Strecke an und putze sie. Es bleibt das kuriose Gefühl, bis ich amZiel bin und die Skier losschnalle, dabei entdecke: ich fuhr die ganze Strecke mit der Pfeife im Mund. Das war vor einem Jahr. Um über das Altern zu schreiben, genügte es für Michel de Montaigne, daß er einen Zahn verlor; er schrieb: »So löse ich mich auf und komme mir abhanden.«

Verhör I
    A. Wie stehst du zur Gewalt als Mittel im politischen Kampf? Es gibt Brillenträger wie dich, die persönlich schon einem Handgemenge ausweichen, aber die Anwendung von Gewalt im politischen Kampf bejahen.
A.
Wie stehst du zur Gewalt als Mittel im politischen Kampf? Es gibt Brillenträger wie dich, die persönlich schon einem Handgemenge ausweichen, aber die Anwendung von Gewalt im politischen Kampf bejahen.
B.
– theoretisch.
A.
Hältst du eine gesellschaftliche Veränderung für möglich ohne Anwendung von Gewalt oder verurteilst du die Anwendung von Gewalt grundsätzlich – wie Tolstoj, den du gerade liest.
B.
Ich bin Demokrat.
A.
Ich sehe, was du bei der Lektüre angestrichen hast. Zum Beispiel: »Die nach Ansicht der herrschenden Klassen schädlichsten Leute sind aufgehängt oder befinden sich in Sibirien, in den Festungen und Gefängnissen … Man könnte meinen, was braucht man noch mehr? Indessen der Zusammenbruch der bestehenden Lebensordnung schreitet dennoch fort, gerade jetzt und bei uns in Rußland.«
B.
Geschrieben 1908.
A.
Da du dich als Demokrat bezeichnest, nehme ich an, daß dir die Gewalt der herrschenden Klasse im zaristischen Rußland verwerflich erscheint.
B.
Ja.
A.
Würdest du solchen Zuständen gegenüber die Anwendung von Gewalt, also Gegengewalt, gerechtfertigt finden?
B.
Tolstoj war dagegen.
A.
Ich frage dich.
B.
Wir haben keine solchen Zustände. Können wir überhaupt noch von herrschenden Klassen sprechen, wie Tolstoj, und somit von Leuten, die nach Ansicht der herrschenden Klassen schädlich sind und verfolgt werden mit Gewalt, die Gegengewalt hervorruft? Heute und bei uns geht es glimpflich zu, verglichen mit dem zaristischen Rußland, auch verglichen mit Spanien oder Portugal oder Griechenland, auch verglichen mit der UdSSR. Die nach Ansicht der Mehrheit schädlichen Leute werden nicht gehängt, kaum ins Gefängnis gesteckt, es sei denn, daß sie sich gegen das Gesetz vergehen; aber nicht wegen ihrer Denkart. Was einer wegen seiner Denkart zu gewärtigen hat, sind Unannehmlichkeiten, aber nicht mehr; Erschwerung der Karriere, aber keine Verschickung nach Sibirien oder Jaros, keine Entrechtung. Vielleicht verliert einer seine Lehrer-Stelle; Entlassung, aber kein Berufsverbot. Verunglimpfung in der staatserhaltenden Presse, infolgedessen Verurteilung an Stammtischen, aber kein Strafvollzug durch staatliche Organe. Die Meinungsfreiheit, wie die Verfassung sie garantiert, bleibt gewahrt. Ebenso das Streikrecht; die Arbeiter können ihre Forderungen vortragen, man verhandelt mit ihnen, sie sind ja keine Leibeigene. Wenn einer überhaupt nicht arbeiten will, kann er auch gammeln; keine Zwangsarbeit. Wer trotzdem eine Veränderung will, kann es sagen in aller Öffentlichkeit; man wird ihn nicht an die Hochschule berufen, auch nicht ans Fernsehen, vielleicht wird sein Telephon überwacht, aber er kann sagen, was er will. Es wird ihm nicht einmal der Paß entzogen. Wie gesagt: keine Entrechtung. Wo der Staat als Gönnerauftritt, kommen solche Leute natürlich nicht in Betracht; das ist Pech, aber nicht Gewalt; es geschieht ihnen nichts, wenn sie über die Straße gehen. Die nach Ansicht der herrschenden Mehrheit schädlichen Leute behalten sogar das Stimmrecht; die Mehrheit entscheidet. Und vor dem Gesetz sind alle gleich, die Machtlosen und die Mächtigen. Hofft einer von diesen Leuten, daß er Richter wird, so irrt er

Weitere Kostenlose Bücher