Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Mißtrauen und weniger diplomatisch-freundlich, krampfloser, charmant wie gegenüber einem Rehabilitierten. Ich habe Scheu vor dieser Begegnung mit Ehrenburg. (Ein alter Bekannter, damals ein junger Anhänger von Gottwald, lächelt kurz: Hören Sie ihn an! Und: Er schreibt jetzt seine Erinnerungen, aber die andern erinnern sich auch –.) Ich erinnere mich an Ehrenburg vor 21 Jahren an einem Kongreß in Breslau, ich war empört über Ehrenburg wie Fadejew, der als Stalinist später Selbstmord begangen hat. Ehrenburg jetzt ein Greis. Wir sitzen in der Hotelhalle, ausgestellt, ab und zu zuckt ein Blitzlicht auf Ilja Ehrenburg. Er kennt einen Roman in russischer Übersetzung, ein aufgeführtes Stück, er kennt Enzensberger und Böll. Sie waren in Moskau vor einem Jahr? Stimmt. In Moskau traf ich Leute vom Theater, keine namhaften Schriftsteller; die waren grad am Schwarzen Meer. Ehrenburg: Wen haben Sie in Moskau getroffen? Das Gespräch hat (in der Erinnerung) drei Phasen, eine Dauer von zwei Stunden.
Erste Phase: Bewunderung für Isaak Babel, Ehrenburg erzählt von seiner Freundschaft mit dem Zeitgenossen, den er als den größten sowjetischen Dichter bezeichnet, der aber (so sagt Ehrenburg) nicht als solcher anerkannt ist, weil er Jude war. Ist das so? frage ich. Ehrenburg erzählt, und Isaak Babel wird gegenwärtiger als alles, was durch die Hotelhalle geht.
Zweite Phase: da von Isaak Babel, dem Toten, die Rede war, ergibt es sich zwanglos, daß Ehrenburg von Stalin-Opfern spricht, die überlebt haben, er berichtet das Geschick eines Mannes, das ich kenne: von diesem selbst. Ich höre zu. Ehrenburg: Haben Sie ihn nicht getroffen in Moskau? Moskau ist eineRiesenstadt, und ich war nur eine Woche dort, es wundert mich, daß die Rede grad auf diesen einen kommt. Aber Ehrenburg spricht von einem zweiten, den ich in Moskau getroffen habe und den er als seinen guten Freund bezeichnet. Wie klein die Welt ist! Der Mann, weiß ich, ist unter Stalin auch zehn Jahre im Kerker gewesen, jetzt wieder in der Partei, rehabilitiert, neuerdings wieder in Schwierigkeiten, da er einen Protest (im Ton einer Petition) unterzeichnet hat. Ehrenburg hat recht: Ein Mensch, ein großartiger Mensch. Wie kommen wir grad auf ihn? Da Ehrenburg offensichtlich weiß, daß ich den Mann getroffen habe im Kreis des sowjetischen Schriftstellerverbandes und des Gorki-Institutes, aber auch allein, bestelle ich Grüße. (Ein Vierteljahr später dankt er in einem Brief für die Grüße, die ihm Ehrenburg überbracht habe.) Ich frage Ehrenburg, was mit Daniel und Siniawsky geschehe? Er hoffe auf Amnestie zum Jahrestag der Oktober-Revolution. Also Einigkeit: Ein Mensch, ein wunderbarer Mensch, hilfsbereit und treu, also ein tapferer Mensch –
Dritte Phase: Auf die Frage, wie ich zurzeit das Leben in Prag finde, berichte ich vom Theater, von der besichtigten Siedlung, vom Krankenhaus, vom Versagen der Funktionär-Bürokratie. Ehrenburg: Wem sagen Sie das! Gerade die Partei, die sich als Volksherrschaft versteht, müßte doch daran interessiert sein, so meine ich und bringe den Satz nicht zu Ende, Ehrenburg: Wem sagen Sie das! Ich nehme an, daß hier kein Mikrophon ist; Ehrenburg spricht, wie kein Tscheche es sich leisten kann. Mein Eindruck von der Jugend in diesem Land? Nach einer Woche kann ich kein verläßliches Urteil abgeben, aber er will doch meine Eindrücke hören, der Patriarch. Ein Eindruck unter andern: Apathie in politischer Hinsicht. Ehrenburg: Das ist bei uns nicht anders. Wie erklärt sich das, was er bedauert? Die Jugend, meint Ehrenburg, habe die Zustände vor der Revolution nicht erlebt, die Revolution nichtund den Krieg nicht. Aber bald gibt er zu, daß diese Erklärung zu dürftig ist; es sei komplizierter. Und da Ehrenburg sich einen Tee (wenn ich nicht irre: Tee) bestellt, offenbar also Zeit hat, frage ich weiter. Ehrenburg: Es ist so. Aber warum? Ehrenburg macht der Jugend keinen Vorwurf; die Schuld, meint er, liege nicht bei der Jugend. Ich weiß nicht, wieweit das Gespräch offen ist; es gibt ja auch eine taktische Schein-Offenheit. Vielleicht irrt man sich, ich weiß es nicht, daraus entsteht die Vorsicht, die hier, wie in Moskau, jedermann gelernt hat wie Orthographie. Ehrenburg fragt, wen ich in Prag getroffen habe? Ich erwähne Professor Goldstücker, der gegen das Verbot von Kafka angetreten ist mit Erfolg, und bringe das Gespräch auf das Kafka-Grab, das ich heute besucht habe. Ehrenburg wird wieder in der Halle ausgerufen.
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