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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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durch Gewalt dazu zwingen, ihren Willen zu tun …«
B.
Was willst du mich fragen?
A.
Bejahst du die Gegengewalt?
B.
Gegengewalt in welcher Situation? Ein Attentat auf Hitler, wenn es gelungen wäre, hätte ich nicht als gemeinen Mord verurteilt. Zum Beispiel.
A.
Ich meine: Gegengewalt in der Demokratie.
B.
Liest man von Gewalt, so denke ich vorerst nicht an Staatsgewalt, auch nicht an die Gewalt des Kapitals, nicht an Krieg, sondern an Pflastersteine, Schüsse auf die Polizei,Brände usw., also an Gewalttätigkeit, die mich erschreckt. Liest man gleichzeitig von Knüppeln und Tränengas und Wasserwerfern und Schüssen nicht aus der Menge, sondern in die Menge, so erschreckt es mich auch, obschon das nicht Gewalttätigkeit ist, sondern Anwendung der Staatsgewalt zwecks Ruhe und Ordnung. Es ist natürlich schon ein Unterschied: Gewalt ohne Recht, Gewalt mit Recht. In andern Sprachen ist es klarer: »violence«, »power«. Martin Luther King predigt »Non-violence«, aber nicht »Non-power«, wenn er für die Bürgerrechte der Neger kämpft; was mit Bittschriften nicht in Jahrzehnten zu erreichen ist, das erreicht ein Bus-Streik in Alabama – ohne Gewalttätigkeit, aber durch eine Demonstration möglicher Gewalt.
A.
Und diese bejahst du?
B.
Sicher.
A.
Und die Gewalttätigkeit?
B.
Schon auf Fotos oder in der Tagesschau entsetzt mich jeder Akt der Gewalttätigkeit. Daher liebe ich die These, Gewalttätigkeit verändere nichts. Wer zum Schwert greift usw.
A.
Hier hast du die folgende Stelle angestrichen: »Sie mögen sich und andere so viel sie wollen zu überreden versuchen, daß die entsetzlichen Verbrechen gegen die göttlichen und menschlichen Gesetze, die sie ununterbrochen begehen, aus irgendwelchen höheren Erwägungen vollbringen, sie können das Verbrecherische, Sündhafte, Niedrige ihres Tuns weder vor sich noch vor andern verbergen … das wissen auch alle Zaren, alle Minister und Generäle, wie sehr sie sich auch hinter irgendwelchen erklügelten höheren Erwägungen zu verschanzen suchen.« Absatz: »Dasselbe bezieht sich auf die Revolutionäre, ohne Unterschied der Parteien, wenn sie den Mord als zulässig für die Erreichung ihrer Ziele betrachten.«
B.
Tolstoj war Christ.
A.
Wenn du eine gesellschaftliche Veränderung für unumgänglich hältst und offenbar zu der Meinung kommst, daß Personen, deren Macht sich hinter Rechtsstaatlichkeit verschanzt, jede Veränderung auf rechtsstaatlichem Weg verhindern – bist du dann für Anwendung von Gewalt?
B.
Was wäre die Alternative?
A.
Verzicht auf Veränderung.
B.
Das ist nicht die Alternative. Was die Geschichte lehrt: sie bleibt nie stehen. Oder nicht lange. Das darf man sagen, glaube ich, auch wenn das Telefon abgehört wird … Ich habe Angst vor der Gewalt, daher liebe ich die These, die Vernunft könne verändern.
A.
Deine Parole wäre also: Reform.
B.
Dabei sehe ich mich in seltsamer Gesellschaft; daß mit Gewalt nichts zu verändern sei, das sagen auch die Inhaber der Macht, die jede Reform verhindert. Man kann ihren Ärger verstehen, wenn es zu Unruhen kommt; zwar werden sie damit fertig, aber die gewaltlose Unterdrückung, Repressalie in Ruhe und Ordnung, ist ungefährlicher auch für sie, denn die Anwendung von Staatsgewalt hat immer etwas Aufreizendes, etwas Lehrreiches, sie bringt zum Bewußtsein, daß die Botschaft von der Gewaltlosigkeit immer an die Unterdrückten adressiert ist.
A.
Rechtfertigst du damit die Gegengewalt?
B.
Mein Entsetzen vor der Gewalttätigkeit ist dadurch nicht geringer, daß ich sie unter Umständen verstehen muß – zum Beispiel die zunehmende Gewalttätigkeit der Neger; ihre Lage ist schätzungsweise die Lage der russischen Bauern und Soldaten und Arbeiter zur Zeit von Tolstoj, der ihnen so gern geholfen hätte, aber Tolstoj hat den Zar nicht überzeugen können; sie mußten sich selber helfen.
A.
Erwartest du also eine Revolution?
B.
Wahrscheinlich hätte ich vor jeder Revolution, die je stattgefunden hat, dasselbe gesagt: Ich sehe keine realistische Chance. Das heißt wohl, daß ich kein Revolutionär bin.
A.
Glaubst du nicht, daß durch Verbreitung von Wohlstand sich jede Revolution überhaupt erübrigt?
B.
Das erschwert sie.
A.
Bedauerst du das?
B.
Wenn ich gerade Tolstoj lese, frage ich mich zum Beispiel, was geschehen wäre, wenn die Zaren damals durch Verbreitung eines gewissen Wohlstandes dafür gesorgt hätten, daß die Revolution sich erübrigt. Wir hätten heute noch das Zarentum.
A.
Aber ein anderes.
B.
Aber

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