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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sich, aber er wird deswegen nicht verhaftet, nicht verfolgt usw., kurzum: die Repressalien bleiben durchaus im Rahmen des Rechtsstaates.
A.
Bist du für den Rechtsstaat?
B.
Ich bin für den Rechtsstaat.
A.
Was verstehst du darunter?
B.
Daß niemand der Willkür und Gewalt des jeweils Stärkeren ausgesetzt ist, Recht für alle, eine Ordnung, die garantiert, daß gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden ohne Gewalttätigkeit.
A.
Du sprichst aber von Repressalien –
B.
Es gibt natürlich Gewalt ohne Gewalttätigkeit, ein Zustand, der dem Rechtsstaat sehr ähnlich sehen kann. Gewissermaßen ein friedlicher Zustand: indem nämlich um der Gewaltlosigkeit willen Konflikte geleugnet und die fälligen Auseinandersetzungen verhindert werden. Gewalttätigkeit seitens der herrschenden Klasse, wie Tolstoj sie in seinen Flugschriften brandmarkt, liegt nicht vor. Das garantiert der Rechtsschutz: Schutz vor Gewalttätigkeit. Deswegen bin ich für den Rechtsstaat.
A.
Das sagtest du schon.
B.
Man kann es nicht genug sagen.
A.
Was heißt Repressalie?
B.
Die betrifft nicht das Gesetz, sondern lediglich die Betroffenen; also nicht den Rechtsstaat als solchen. Hingegen die Gewalttätigkeit verstößt gegen das Gesetz, Körperverletzung,Beschädigung von fremdem Eigentum usw. Daher kann die Polizei, die den Rechtsstaat schützt, erst einschreiten bei Gewalttätigkeit, nicht bei Repressalien – was dann den Eindruck erweckt, die Polizei schütze nur die herrschenden Klassen. Das stimmt nicht. Sie schützt jedermann vor Gewalttätigkeit. Der falsche Eindruck entsteht nur dadurch, daß die herrschenden Klassen eben nicht gewalttätig sind. Es genügt ihnen das Recht, das ihre Herrschaft garantiert, sie brauchen keine Gewalttätigkeit.
A.
Warum liest du gerade Tolstoj?
B.
Weil er mich gerade interessiert.
A.
Hier hast du angestrichen: »Ich kann und will es nicht, erstens weil für diese Leute, die ihr Verbrechen nicht sehen, die Entlarvung notwendig ist … zweitens kann und will ich nicht länger dagegen ankämpfen, weil (ich gestehe es offen) ich hoffe, daß ich für meine Entlarvung dieser Leute auf irgendeine Weise aus der Gesellschaft ausgestoßen werde, in deren Mitte ich lebe und in welcher ich mich unmöglich nicht als mitschuldig an den Verbrechen, die um mich her begangen werden, fühlen könnte.«
B.
Gemeint sind die Hinrichtungen –
A.
Was es bei uns nicht gibt.
B.
– und Kriege.
A.
»Und wie sonderbar es auch klingen mag, daß all dieses für mich geschieht und daß ich Mitbeteiligter an diesen Taten bin, ich kann dennoch das Gefühl nicht überwinden, daß eine unzweifelhafte Abhängigkeit meines geräumigen Zimmers, meines Mittagsmahls, meiner Kleidung, meiner Bequemlichkeit von diesen schrecklichen Verbrechen besteht, die begangen werden, um jene unschädlich zu machen, die mir nehmen möchten, was mir gehört.«
B.
Hier sprach der Graf.
A.
»Deswegen schreibe ich dieses und werde es, soweit ichkann, sowohl in Rußland wie im Auslande verbreiten, damit eines von beiden: entweder diese unmenschlichen Taten aufhören, oder daß man meine Verbindung mit diesen Dingen aufhebt, indem man mich entweder ins Gefängnis sperrt, wo es mir klar zum Bewußtsein kommen mag, daß diese Schrecken schon nicht mehr meinetwillen begangen werden, oder, was noch besser wäre (so gut, daß ich von solchem Glück nicht zu träumen wage), daß man mich wie jene zwanzig oder zwölf Bauern in ein Totenhemd steckt und unter meinen Füßen die Bank vorstößt, damit ich durch mein eigenes Gewicht auf meiner alten Kehle die eingeseifte Schlinge ziehe.« Warum hast du das angestrichen?
B.
Ich fand es sehr kühn.
A.
Nun gibt es aber in unserem Land, wie du selber gesagt hast, keine Verbrechen dieser Art. Ein Satz wie dieser: »daß eine unzweifelhafte Abhängigkeit meines geräumigen Zimmers, meines Mittagsmahls, meiner Kleidung, meiner Bequemlichkeit von diesen schrecklichen Verbrechen besteht«, das könnte sich heute allenfalls auf gewisse Vorkommnisse in der Dritten Welt beziehen.
B.
Ja.
A.
Hast du daran gedacht?
B.
Vielleicht hätte Tolstoj daran gedacht.
A.
Hier eine andere Stelle: »Die gewaltsame Revolution hat sich überlebt. Alles, was sie den Menschen geben kann, hat sie ihnen schon gegeben –«
B.
Das habe ich nicht verstanden. Geschrieben 1905, angesichts der Verhältnisse, die Tolstoj eben geschildert hat, eine Behauptung, die ich nicht verstanden habe.
A.
Wenn ich sehe, was du angestrichen hast, so fällt auf: erstens beschäftigt

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