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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Zarentum.
A.
Du meinst nicht, daß die Drohung mit Gegengewalt auch ein verhinderndes Element sein kann, indem sie zwangsläufig die Haltung der derzeitigen Inhaber der Macht versteift?
B.
Wenn Fidel Castro, statt kubanische Dörfer zu erobern und die fremden Inhaber zu enteignen, in die amerikanischen Lobbies gegangen wäre, so wäre Washington zweifellos weniger steif (was das Experiment möglicherweise zum Scheitern bringt) und die amerikanischen Ausbeuter säßen noch immer in Kuba.
A.
Bleiben wir in unserer Gegend.
B.
Die Fragen sind dieselben.
A.
Du bist also für Veränderung –
B.
Ja.
A.
Du meinst aber, daß die Inhaber der Macht sich jeder Veränderung des Rechts widersetzen und zwar mit Gewalt, wenn es anders nicht geht, im Namen des Rechtsstaates.
B.
Das ist natürlich.
A.
Du meidest den Satz: Es geht nur mit Gegengewalt.Meidest du den Satz, weil du, wie du sagst, Angst hast vor jedem Akt der Gewalt oder weil du immer noch hoffst, eine gesellschaftliche Veränderung sei möglich ohne die Androhung von Gegengewalt?
     
     
    Ende April 1967
     
    Militär-Putsch zur Verhinderung demokratischer Wahlen in Griechenland. König Konstantin, aus dem Bett geholt zur unterschriftlichen Genehmigung des Umsturzes, soll gezögert haben, bis die Königinmutter, die deutschstämmige, dem jungen Monarchen dann Beine gemacht hat. Papandreou und andere Politiker verhaftet, Deportationen, Liquidation des Rechtsstaates mit der Begründung: Kommunistische Gefahr. Alles wie gehabt, Militär-Junta zwecks Ruhe und Ordnung, die gewählten Parteien verboten zwecks Vaterland. Volk läuft nach Piräus und hofft auf die 6. amerikanische Flotte im Mittelmeer, die in Sicht vor Anker liegt: keine militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes mit amerikanischen Investitionen. (Unsere NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, ebenfalls ohne sich einzumischen in die inneren Angelegenheiten eines Landes mit schweizerischen Investitionen, gibt zu bedenken, daß die Wahlen, demnächst fällig, tatsächlich eine Mehrheit der sozialistischen Parteien hätten bringen können; man muß die Offiziere schon auch verstehen.) Ergebnis: eine faschistische Diktatur als NATO-Mitglied. Fotos: Griechisches Volk ohnmächtig vor NATO-Tanks unter griechischer Flagge.

Zum Stück
    Die Fabel, die den Eindruck zu erwecken sucht, daß sie nur so und nicht anders habe verlaufen können, hat zwar immer etwas Befriedigendes, aber sie bleibt unwahr; sie befriedigt lediglich eine Dramaturgie, die uns als klassisches Erbe belastet: Eine Dramaturgie der Fügung, eine Dramaturgie der Peripethie. Was dieses große Erbe anrichtet nicht nur im literarischen Urteil, sondern sogar im Lebensgefühl: im Grunde erwartet man immer, es komme einmal die klassische Situation, wo meine Entscheidung schlichterdings in Schicksal mündet, und sie kommt nicht. Es gibt große Auftritte, mag sein, aber keine Peripethie. Tatsächlich sehen wir, wo immer Leben sich abspielt, etwas viel Aufregenderes: es summiert sich aus Handlungen, die zufällig bleiben, es hätte immer auch anders sein können, und es gibt keine Handlung und keine Unterlassung, die für die Zukunft nicht Varianten zuließe. Der einzige Vorfall, der keine Variante mehr zuläßt, ist der Tod. Wird eine Geschichte dadurch exemplarisch, daß ihre Zufälligkeit geleugnet wird? Es geschieht etwas, es kann verschiedene Folgen haben oder keine, und etwas, was ebenso möglich wäre, geschieht nicht; eine Gesetzmäßigkeit, die sich erkennen läßt für die große Zahl, hat Wahrscheinlichkeitswert, aber nicht mehr, und was geschieht, bedeutet nicht, daß mit den gleichen Figuren nicht auch ein anderer Spielverlauf hätte stattfinden können, eine andere Partie als diese, die Geschichte geworden ist, Biografie oder Weltgeschichte. Es wäre unsinnig zu glauben, daß der 20. Juli nicht auch hätte gelingen können. Kein Stückschreiber heute könnte als Notwendigkeit verkaufen, daß jene Bombe, richtig gelegt, dann zufälligerweise um einige Meter verschoben, vergeblich krepierte. So war es halt. Und dasselbe gilt für irgendeine Geschichte. Jeder Versuch, ihren Ablauf als den einzig möglichen darzustellen und sie von daherglaubhaft zu machen, ist belletristisch; es sei denn, man glaube an die Vorsehung und somit (unter anderem) auch an Hitler. Das tue ich aber nicht. So bleibt, damit eine Geschichte trotz ihrer Zufälligkeit überzeugt, nur eine Dramaturgie, die eben die Zufälligkeit akzentuiert –
     
     
    5. 6.

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