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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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verurteilen?« fragt dieser. »Ich frage ja Sie«, sagt jener. »Nur hat Sartre vergessen zu sagen, daß angesichts eines Hungerkindes oder eines Napalm-Opfers schon eine schlichte Mahlzeit obszön wird«, sagt jemand. »Chaplin war groß, solange er stumm blieb«, das weiß aber jeder. »Jede Literatur, die diesen Namen verdient, ist im Grund subversiv«, sagt jemand. »Proust zum Beispiel?« fragt jemand. »Und warum gehen Sie denn nicht in die praktische Politik, wenn Sie, wie Sie meinen, ein politischer Mensch sind?« fragt jemand. »Wir werden schon noch handeln«, sagt einer. »Wann?« lacht jener. »Stimmt für Sie die Nachricht, daß die Literatur tot ist?« fragt jemand. »Was mich betrifft, so handle ich ja seit Jahren«, sagt der andere. »Ich kenne die Personen, die diese Nachricht vom Tod der Literatur verbreiten; einer schreibt Gedichte, die er vorderhand nicht veröffentlicht, und der andere läßt immerhin Samuel Beckett gelten«, sagt jemand. »Um jetzt aber wirklich auf Chaplin zurückzukommen«, sagt wieder der eine. »Der Ruhm habe die Dichtung verlassen, er gebühre den Wissenschaftlern und den Akrobaten; es ist Apollinaire, der das gesagt hat«, sagt jemand. »Müßte man, wenn Sie von Peter Weiss und Jean-Paul Sartre sprechen, nicht unterscheiden (sagen wir) zwischen einem Schriftsteller, der Ideologie hervorbringt, und einem Schriftsteller, der eine vorhandene Ideologieliterarisiert?« fragt jemand. »Und was machen denn Sie selber?« fragt ein Student. »War Chaplin, meinen Sie, ein gelernter Marxist oder Marxist par génie?« fragt einer, der bisher geschwiegen hat. »Wie meinst du das?« fragt seine Gefährtin. »Erlaubt ist, was gelingt«, sagt einer, »es ist wenig genug.« Es ist wieder Mitternacht. »Ich habe wirklich nur über Chaplin reden wollen«, sage ich draußen auf der Straße, »ich habe heute wieder einmal CIRCUS gesehen–«
     
     
    BERZONA, März 1968
     
    Gespräch mit zwei SDS-Leuten in Canero. Sie heißen Wetzel und Amendt; einer sehr schick und fröhlich, der andere mit blondem Ernst, aber auch weltmännisch. Zum Glück habe ich in letzter Zeit einiges in dieser Sache gelesen. Spät genug, aber grad noch zur Zeit – sonst hätten sich die beiden nicht entfalten können. Ihre kanalisierte Intelligenz. Jemand am Tisch hält sich bei Frage oder Widerspruch nicht an die Terminologie, er scheidet aus. Das richtige Bewußtsein hat jetzt sein Vokabular. Die revolutionäre Masse, die Arbeiterschaft, wird viel zu lernen haben, um zu begreifen, daß ihre Erlösung gemeint ist und daß sie für ihre Erlösung unentbehrlich sein wird. Zum Establishment sehr offen: Zur Zeit können Sie uns noch nützen, später natürlich nicht mehr. Abends langes Spaghetti-Essen mit Chianti und Feuer im Kamin. Aufklärer mit Bereitschaft zur Gewalt, dabei die Zauberformel: Gewalt gegen Sachen, nicht gegen Personen. Und wenn die Sachen bewacht werden von Personen? Es wird Tote geben.

Handbuch für Mitglieder
    »So löse ich mich auf und komme mir abhanden.«
    Michel de Montaigne
     
    Niemand will wissen, was ihm im Alter bevorsteht. Wir sehen es zwar aus nächster Nähe täglich, aber um uns selbst zu schonen, machen wir aus dem Altern ein Tabu: der Gezeichnete selber soll verschweigen, wie widerlich das Alter ist. Dieses Tabu, nur scheinbar im Interesse der Alternden, verhindert sein Eingeständnis vor sich selbst und verzögert den Freitod so lange, bis die Kraft auch dazu fehlt.
     
    Das Gebot, das Alter zu ehren, stammt aus Epochen, als hohes Alter eine Ausnahme darstellte. (Siehe Statistik) Wird heute ein alter Mensch gepriesen, so immer durch Attest, daß er verhältnismäßig noch jung sei, geradezu noch jugendlich. Unser Respekt beruht immer auf einem NOCH. (»noch unermüdlich«, »noch heute eine Erscheinung«, »durchaus noch beweglich in seinem Geist«, »noch immer imstande« usw.) Unser Respekt gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil: daß jemand trotz seiner Jahre noch nicht senil sei.
     
    Der Greis als äußere Erscheinung ist bekannt. Er schlurft, die Fersen heben sich kaum noch vom Boden; er macht nur noch Schrittchen, als gehe er überall auf Glatteis; wenn er sich auf einen Sessel setzt, spreizt er die Beine, und es sieht etwas unanständig aus. Alle seine Bewegungen, die beiläufigen wie die dringlichen, haben ein gleiches Tempo. Wenn er ein Bier getrunken hat, kann er's nicht lang halten. Wenn er nicht hört, was am Tisch ringsum gesprochen wird,

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