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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ausgestoßen ist, und Funktionäre heben ihr Glas: fast gerührt, mindestens ohne Animosität. Sie mögen ihn ja, ich weiß. Auch wenn sie ein noch härteres Urteil gegen einen Genossen aussprechen oder billigen müssen, ein lebenvernichtendes, so nur, weil sie müssen. Ich frage Andrei Voznesensky, warum er nicht auf der Wolga dabei gewesen ist; er lächelt ohne Anzüglichkeit: How did you enjoy it? Ein junger Weltmann, etwas zu elegant; dann Gespräch über das End-Theater von Beckett. Nachher mit Botschafter Lindt allein. »Nehmen Sie Ihr Glas, sprechen wir lieber draußen im Garten.«
     
    Frage an meine Betreuerin, warum Voznesensky und Jevtuschenko eigentlich in Ungnade sind. Antwort: sie sind nicht in Ungnade, sie sind nur zu oft im Ausland gewesen und müssen wieder lernen, ihre Heimat richtig zu verstehen.
     
    Das Böse: Faschismus, Maoismus.
     
    Meine Eindrücke von der ersten Reise (1966: Moskau, Leningrad, Odessa) bisher kaum widerlegt. Ohne Kenntnis der russischen Sprache hat die Reise wenig Sinn; ein Stummfilm mit Titeln, die uns die Funktionäre geben. Man verläßt sich schließlich nur noch auf seine Augen und weiß, daß man an der Oberfläche bleibt, verdrossen über sich selbst; der Verdruß überträgt sich auf das Land. Man richtet mehr als man wahrnimmt. Da sie alles, was erfreulich ist, sofort auf ihr System beziehen, verfällt man schweigend auf den Gegenfehler, daß man auch alles, was übel ist, sofort auf das System bezieht.
     
    Abflug nach Sibirien. Reise allein mit meiner Betreuerin.
    Fliegen ist für Einheimische sehr billig; fünf Stunden im Jet: 48 Rubel. Viel Volk in der großen Halle, Arbeiter, Bauern. Reisen mit behördlicher Bewilligung.

Novosibirsk, 27./29. 6.
    Der sibirische Schriftsteller, der mich trotz Morgenfrühe am Flughafen abholt, ist schwerhörig, drum seine überlaute Stimme, wenn er, ohne mich je anzublicken, Angaben macht über West-Sibirien: Größe des Landes, Länge und Breite der Ströme, Höhe der Berge, Temperatur im Winter, Temperatur im Sommer, Bevölkerungszunahme, Bodenschätze, Länge und Breite und Tiefe und Inhalt von Stausee usw. Es ist alles sehr enorm. Breite des Ob im Norden: 45 km. Meine Antwort auf seine kurze Zwischenfrage, wie breit Flüsse in Schweiz, braucht Sofija nicht zu übersetzen: das Lächeln eines Geschlagenen. Einmal überqueren wir zwei Geleise, denen man nichts ansieht, aber das sind sie: die Geleise der TranssibirischenBahn. Fortsetzung des Unterrichts, der mir willkommen ist; der Akzent liegt auf der Quantität wie überall bei Pionieren. Hotelzimmer wie ein Tanz-Salon. Frühstück (ich kämpfe gegen Schlaf) mit Wodka und Ablösung der Eskorte, dann Fahrt hinaus zur Stadt der sowjetischen Forscher. Industrie-Landschaft am Ob; Eindruck, daß hier der Himmel noch weiter sei als an der Wolga. Meine neue Kollegen-Eskorte: zwei sibirische Lyriker, ein älterer und ein junger, den offensichtlich das Ehrenamtliche noch freut, beide in dunklem Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, der Junge mit einem blonden Vogelgesicht, immer genau senkrecht, ob er sitzt oder geht, immer fröhlich und liebenswürdig-wortkarg. Stausee (Länge 200 km.) in blassem Morgenblau, Ufer mit Birken oder Föhren; wie ich mir die skandinavische Landschaft vorstelle. Militär-Lastwagen. Der ältere Lyriker erkundigt sich, wie lang man Militär-Dienst leistet in meinem Land. Er ist der erste, der nach unsern Verhältnissen fragt –
     
    Campus in Birkenwald. Wohnhäuser der Gelehrten mit Gartenzaun. Wohnblocks mit Kindergarten. Stille, wenig Autos. Zentrum mit Kino und Restaurant, Hotel, Warenhaus usw., viel niedrige Bauten. Hier keine Universität, nur Forschung. Ich sehe hauptsächlich Menschen zwischen zwanzig und dreißig. Keine Hast, etwas Klösterliches. Bis wir zwei oder drei Institute besuchen können, Bummel hinunter zum großen See: Badende, man fröstelt beim bloßen Anblick, Ballspiele am Strand, auch Mädchen, Brillenträger beim Waldlauf im blauen Trainer.
    Hier keine Lenin-Bilder.
    Mittagessen in einer Art von Cafeteria oder Snack-Bar; zum ersten Mal russische Kellnerinnen, die es nicht verargen, wenn man etwas bestellt. Die beiden Lyriker: kein Wort von Propaganda für das sowjetische System. Es erübrigt sich hier. Institutfür Genetik. Auskunft über Gen-Forschung. Englisch; sobald es einmal ohne Dolmetscher geht, sofort ein andres Vertrauen. Auskunft über ein neues Virus-Medikament; ich glaube wenigstens das Prinzip zu verstehen als Laie.
    Hier

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