Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
keine Ost-West-Hysterie.
Abendbummel mit meiner Betreuerin in der alten Stadt, aber es gibt kaum noch alte Häuser in Holz. Opernhaus vor einem viel zu großen Platz. Bogenlampenleere. Wand mit Foto-Porträts: Arbeiter und Arbeiterinnen, die ausgezeichnet worden sind. Plakate eines Theaters: Gastspiele aus Moskau; Bilder von einer eignen Inszenierung: offenbar ein Hitler-Stück. Darsteller in Hakenkreuz-Uniform, Hitler in Person realistisch-melodramatisch. Menschen im Park. Mitternachthelle.
Institut für Geologie.
Was Sibirien an Bodenschätzen hat: Kohle, Erdöl, Erdgas, Kupfer, Silber, Gold, Diamanten usw. Problem: Transport.
Institut für Mathematik.
Wie sie die Auslese der Talente betreiben. Schüler in allen sowjetischen Republiken können sich jedes Jahr an einem Wettbewerb beteiligen, Lösung mathematischer Aufgaben, die der Lehrer aus Novosibirsk erhält; sie werden auch in den Zeitungen veröffentlicht. Dabei geht es nicht um das richtige Ergebnis, sondern vor allem um die Art, wie einer zum Ergebnis kommt oder nicht. Wer dabei Begabung verrät, kommt nach Novosibirsk, wo ihm wieder Aufgaben gestellt werden; er hat seine Lösungen in einem Auditorium zu vertreten; Diskussion mit den andern Aspiranten und mit den Wissenschaftlern. Wer sich hier bewährt, kommt an die Elite-Schule von Novosibirsk, später an die Universität; die Besten übernimmt das Forschungs-Institut.
Wodka-Unfall im Hotel:
DDR-Vertreter für Straßenbau-Maschinen holen mich an ihren Tisch; ich weiß nicht, was ich gesagt habe; Sofija bringt mich ins Zimmer, sie mag diese Leute nicht –
Moskau, 30. 6.
Abschied von Freunden.
BERZONA
Jemand berichtet von einer verbürgten Begegnung zwischen Robert Walser und Lenin an der Spiegelgasse in Zürich, 1917, dabei habe Robert Walser eine einzige Frage an Lenin gerichtet: Haben Sie auch das Glarner Birnbrot so gern? Ich zweifle im Traum nicht an der Authentizität und verteidige Robert Walser, bis ich daran erwache – ich verteidige Robert Walser noch beim Rasieren.
ZÜRCHER MANIFEST (unterzeichnet)
WIR STELLEN FEST:
In Zürich ist es zwischen Jugendlichen und der Polizei zu Kämpfen gekommen. Damit brachen auch in unserer Stadt Konflikte auf, wie sie sich gegenwärtig in Ost und West zeigen.
WIR FOLGERN:
Die Zürcher Ereignisse dürfen nicht isoliert beurteilt werden. Sie sind eine Folge unzulänglicher Gesellschaftsstrukturen. Sie als Krawalle abzutun und die Beteiligten nur als randalierende Taugenichtse und Gaffer hinzustellen, ist oberflächlich.
WIR SIND ÜBERZEUGT:
Eine Ursache der Krise ist die Unbeweglichkeit unserer Institutionen.Diese Unbeweglichkeit wendet sich gegen den Menschen. Sie verhindert die Anpassung an die sich wandelnden Bedürfnisse der Menschen und die Entfaltung schöpferischer Minderheiten.
WIR ERINNERN:
Wesentliche Umwälzungen sind immer von Minderheiten ausgegangen. So fand 1848 der Liberalismus gerade in der Jugend leidenschaftliche Anhänger. Diese Minderheit – damals Revoluzzer genannt – bewahrte die Unabhängigkeit der Schweiz und schuf unseren Bundesstaat.
WIR WARNEN:
Einen kulturellen Konflikt lösen weder Prügel und Verbote noch Besänftigung durch gönnerhafte Angebote. »Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade« (Pestalozzi). Unterdrückung der Konflikte treibt die Jugend auf die Barrikaden.
WIR FORDERN:
1.
Bereitstellung eines zentral gelegenen, autonom verwalteten Diskussionsforums für Jung und Alt.
2.
Verzicht auf Sanktionen wie Relegation von Studenten und Schülern, Entzug von Stipendien, Ausweisung von Ausländern, Entlassungen, sofern nicht schwerwiegende Delikte vorliegen.
3.
Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Demonstrationsrechts.
Forderung 3 inzwischen erfüllt)
4.
Fortsetzung der Gespräche mit allen Minderheiten.
5.
Einladung zur Meinungsäußerung aller Konfliktparteien durch Presse, Radio und Fernsehen.
6.
Unverzügliche Bildung einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe mit dem Auftrag, die tieferen Ursachen des Konflikts zu erforschen und praktische Vorschläge auszuarbeiten.
Protokoll
Meine jüngste Tochter ist dabei gewesen, aber nicht verprügelt und nicht verhaftet worden. Sie sagt: es war ein Plausch, alleganz fröhlich, man saß mitten auf der Straße (Bellevue), das war der Plausch.
EINS ZWEI DREI, GLOBUS FREI ! der Ruf der Jugendlichen vor dem ehemaligen Warenhaus GLOBUS , das leer steht. Ein behördlicher Anschlag: »Wer
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