Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Varianten der bekannten Bauweise, sondern genaue Wiederholungen, was der Oberbaumeister zeigt: als Errungenschaft des Sozialismus. Beim vierten Beispiel schaue ich nach der andern Seite: zur Wolga: Ich nicke, ich nicke. Ich bin nicht erpicht auf alte Kirchen, aber da ist eine, und sie wird gezeigt auch von innen; man ist stolz auf die schönen alten russischen Kirchen. Zu Recht. Wir fahren weiter: Siedlungen wie gehabt, Siedlungen im Bau, ich schaue und schaue, wie es sich gehört, und schweige und sollte gelegentlich etwas sagen. Ich schwitze. Was ich sehe, ist leider nicht zu loben: stur und scheußlich und ohne Einfall, ungenügend für eine Diplom-Arbeit, aber ausgeführt. Ich lobe die Bäume an der Straße und vernehme, sie wurden gepflanzt, alle gepflanzt. Einmal eine große Fabrik: hier werden also die Wolga-Autos hergestellt. Man zeigt auf ein Gebäude: Laboratorium! und da ich nicht verwundert bin, noch einmal: Laboratorium! Ich erfahre, daß die sowjetischen Ingenieure, bevor ein Auto in der Serie hergestellt wird, viele Versuche machen und Berechnungen und so. Als sie auf der Rückfahrt wieder sagen: Laboratorium! bin ich verlegen; Schweigen wird als Mißtrauen empfunden, wenn nicht als verstockter Neid. Ich frage, was ein Wolga-Auto kostet. 5200 Rubel. Da man Verblüffung erwartet, wieviel billiger die Wagen sind als im kapitalistischen Westen, beginne ich zurechnen. Nach dem schwarzen Kurs: 6000 Franken, also ein Volkswagen. Aber dieser Kurs, ich weiß, kommt nicht in Frage. Nach dem offiziellen Kurs: 22 000 Franken, also ein Porsche; aber ich kenne den Wolga-Wagen, wir fahren in einem Wolga-Wagen, ich gestehe meine Verblüffung, wie teuer er ist, wenn ich die Löhne bedenke: 100 bis 170 Rubel im Monat. Aber dafür, so höre ich, ist das Benzin viermal billiger als im Westen –
     
    Versuch einer Diskussion:
    Das Wohnen im Grünen ist seit Anfang dieses Jahrhunderts als Ideal verkündet und in aller Welt schon mehrmals verwirklicht; ist es richtig oder führt es zu einem Zerfall der Stadt? Lebendigkeit der früheren Städte: Wohnplatz – Arbeitsplatz – Feierabendplatz als örtliche Einheit; dagegen heute die örtliche Trennung von Wohn-Stadt und Kultur-Stadt. Wie stellen sich die sowjetischen Soziologen dazu? Die Satelliten-Stadt, wenn auch versehen mit Kino und Schule und so weiter, wird nie ein gesellschaftlicher Brennpunkt; die City anderseits, nicht mehr bewohnt und nur noch besucht, verliert notwendigerweise an Intensität. Das ist die Erfahrung, daher die Frage: ist in der Industrie-Gesellschaft, wo der Arbeitsplatz nicht mehr in der City sein kann und auch der Wohnplatz nicht mehr am Arbeitsplatz, überhaupt die Stadt noch möglich? Und wenn nicht, womit ersetzen wir die Stadt als gesellschaftlichen Brennpunkt? Ich frage. Keine Diskussion. Hier gibt es nur Lösungen; was einmal ausgeführt wird, ist die Lösung.
     
    Abends großes Bankett an langen Tischen, Flaschen in Griffnähe überall, Trinksprüche, die trotz Lautsprecher niemand hört, alle trinken sofort, die Stadt Gorki und der Schriftsteller-Verband der Stadt Gorki begrüßen die Schriftstelleraus aller Welt, Hitze im Saal, man zieht die Jacken aus, Kaviar, Sulze zerfließt, schätzungsweise fünfhundert Leute in Turner-Frohsinn, ich sitze bei den Deutschen, die stiller sind, Georgier dröhnen vor Leben, Umarmungen, ein beflissener Rumäne erinnert durch den Lautsprecher nochmals daran, daß Maxim Gorki ein proletarischer Schriftsteller war und ist und bleibt, der alte Herr aus Prag versichert dasselbe, ein Inder bestätigt es, Selbstbedienung, eine Kapelle spielt Wien um die Jahrhundertwende, mein Funktionär hebt sein Glas auf meine Genesung. Beifall für den Inder, viele gehen umher, um anzustoßen, der Weimarer will auch ans Mikrophon, Grüße an die Brudervölker, aber er muß warten, zuerst das Faktotum aus den USA, Gesang der Georgier unter sich, ein Ungar setzt sich neben mich, aber man versteht kein Wort, also stoßen wir an, der Weimarer kommt ans Mikrophon, Grüße an die Brudervölker, man versteht kein Wort, aber er kommt zufrieden an den Tisch zurück, er hat in der Geburtstadt von Gorki gesprochen, meine Betreuerin trinkt, Weisenborn ersetzt Wodka insgeheim durch Wasser, ich beobachte Christa Wolf, manchmal versinkt sie, dann gibt sie sich wieder Mühe, wir heben das Glas auf Distanz, ohne es zu leeren, ein Kinderfest, aber es sind nicht Kinder, sondern Bären, Trinkspruch auf Trinkspruch, Wodka gut, der Mensch auf

Weitere Kostenlose Bücher