Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
unrechtmäßig in dieses Gebäude eindringt oder dazu anstiftet, macht sich strafbar.« Ein solches Eindringen ist aber nicht geplant, hingegen eine Demonstration vor dem Gebäude, Kundgebung des Protestes, weil es mit dem geforderten und von der Behörde versprochenen JUGENDZENTRUM nicht vorangeht. Polizei auf Pikett. Was die Demonstranten nicht haben erwarten können: die Polizei sperrt das Trottoir vor dem Gebäude, wo sie sich versammeln wollen, dadurch werden die Demonstranten auf die Fahrbahn gedrängt. Verkehrsstörung. Die Polizei (Dr. R. Bertschi) verlangt Abzug in wenigen Minuten, was selbst bei gutem Willen nicht möglich ist; auch kommt der eigene Ordnungsdienst nicht gegen die stärkeren Lautsprecher der Polizei an. Es entsteht Unwillen. Einsatz der Polizei nach Plan, Einsatz von Wasserwerfern, Gegenwehr mit Pflastersteinen und Bierflaschen und Holzlatten, Einsatz von Knüppeln, Verhaftungen, Verletzte auf beiden Seiten. Verhaftete werden in den GLOBUS -Keller gebracht, wo sie, auch wenn sie keinerlei Gegenwehr leisten, nochmals mit Knüppeln zusammengeschlagen werden, Ohnmächtige bekommen Fußtritte in die Hoden. Ein Polizist findet, ein Verwundeter müßte ins Spital gebracht werden; sein Kamerad in Uniform: Der Sauhund soll verrecken. Später auf der Hauptwache werden die Verhafteten neuerdings mit Knüppeln empfangen. Strafvollzug durch Polizei.
Tod eines Kindes. Schlagzeilen und Meldungen der ersten Stunden geben den Demonstranten sofort die Schuld, daß einsechsjähriger Knabe in einem Krankenwagen gestorben ist. Folge der Verkehrsstörung. Erst nach drei Tagen muß Stadtrat A. Holenstein die verbreitete Empörung etwas dämpfen: »Die Darstellung, die man im Fernsehen und in verschiedenen Zeitungen sehen konnte, war übrigens falsch … Der Fahrer sagte aus, daß er durch diesen Umweg fünf bis acht Minuten langsamer gewesen sei … Ich möchte aber noch einmal betonen, daß der Tod dieses Kindes nicht ohne weiteres den Demonstrationen zugeschrieben werden kann.«
In der ersten Sondersitzung des Stadtrates erwägt Stadtpräsident Dr. Sigmund Widmer, ob man Militär einsetzen soll.
Die Jugendlichen (Studenten, Mittelschüler, Lehrlinge) wollen eine Vollversammlung einberufen, um die Situation zu diskutieren. Sie bekommen keinen Saal dafür von der Stadt. Auch Wirte, die über Räumlichkeiten als Eigentum verfügen, verweigern sie den Geächteten. Schließlich bekommen sie das VOLKSHAUS unter der Bedingung: 10 000 Franken Garantie für allfälligen Sachschaden. Wir garantieren mit drei Schecks. Teach-in, sie hocken auf dem Boden, Diskussion bis Mitternacht, dazwischen Gitarren, dann putzen sie den Saal, gehen nach Hause. Die städtischen Detektive auch. Kein Stuhlbein ist zu bezahlen.
Jugendliche (mit Bärten) berichten, daß Polizisten eine Woche vor dem Krawall zu ihnen gesagt haben: Wartet nur, am nächsten Samstag bekommt ihr's! Man hat ihren Krawall programmiert.
Ein Student namens Thomas Held, bekannt als Sprecher der FORTSCHRITTLICHEN STUDENTENSCHAFT ZÜRICH , nicht verhaftet, da er sich keines tatsächlichen oder angeblichenHausfriedensbruchs schuldig gemacht hat, wird sofort aus seiner Lehrerstelle entlassen; eine anonyme Morddrohung nötigt ihn zurzeit, sich zu verstecken.
Beim Sammeln von Unterschriften ( ZÜRCHER MANIFEST ) oft die Antwort: Ich bin vollkommen einverstanden, aber das kann ich mir nicht leisten, ich bin Staatsangestellter/ich bin Assistent/ich bin Redaktor/ich bin beim Fernsehen usw.
Die Polizei erscheint jetzt in Zivil. Wenn auf der Bahnhofbrücke fünf Leute zusammenstehen, sagt ihnen ein Detektiv, was sie zu tun haben: verschwinden. Eine kleine Gruppe, die verspricht, daß sie keinerlei Widerstand leisten wird, versucht einen Marsch in einer Gegend, wo dadurch keinerlei Verkehrsstörung entsteht; sie lassen sich von Detektiven sofort ihre Transparente abnehmen.
Ein Zivilist, der auf die Hauptwache kommt, wird niedergeknüppelt; danach weist er sich als Rechtsanwalt aus, Automobilist, der seine Park-Strafe bezahlen will.
Ein Lehrling, der nicht dabei gewesen ist, hat seine langen Haare zu schneiden, wenn er die Stelle behalten will.
Verhaftete, die verhört werden, haben nicht das Recht, die Vorgänge nach ihrer Wahrnehmung darzustellen; sie haben lediglich auf die gestellten Fragen zu antworten: ob sie einer Vereinigung angehören, einem Club usw.
Eine junge Bühnenbildnerin kam von Frankfurt, wußte von nichts,
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