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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Urlaub vom Staat, Du ein Mensch, ich ein Mensch, es ist nicht Suff, aber Feierabend vom Katechismus, lauter gute Menschen, plötzlich die Frage: Was ist ein anständiger Mensch? Ich schlage vor: Ein anständiger Mensch ist ein tapfrer Mensch, einer, der sich und andern die Treue hält, das ist hierzuland ein tapfrer Mensch. Einverständnis, wir kippen das Glas, und ein Funktionär füllt sofort nach, kommt um den Tisch herum, während die andern weiterreden, und nennt den Namen eines Menschen, ja, wir kennen ihn beide; der Funktionär sagt: Ein anständiger Mensch! wir trinken auf einen, der in Ungnadeist, weil er sich für Daniel und Siniawsky eingesetzt hat, ausgestoßen aus der Partei und aus seinem Lehramt entlassen und von dem Schriftsteller-Verband, der hier feiert, schwerstens gerügt; der Funktionär: Ihr Freund auch mein Freund! … Es ist unheimlich. Ich reise vorzeitig nach Moskau zurück, um eine Aufführung zu sehen. Sofija hängt ihren Arm ein. Eine ältere Genossin, die im selben Nachtzug reist, betreut meine Betreuerin; sie nimmt die Beschwipste in ihr Abteil und füllt sie vollends mit Wodka.

Moskau, 23./26. 6.
    Gerücht: ein sowjetischer Physiker habe an den Kreml geschrieben, Kritik am status quo, Warnung vor Neo-Stalinismus. Notwendigkeit einer Zusammenarbeit von Ost und West, Behinderung der Wissenschaft und überhaupt des Geisteslebens durch Funktionär-Bürokratie, Wahnsinn der atomaren Aufrüstung usw., Notwendigkeit von Reform.
    Aufführung im Satirischen Theater, DON JUAN ODER DIE LIEBE ZUR GEOMETRIE , ohne grobes Mißverständnis. Mirinov ist ein Schauspieler ersten Ranges. 35 Grad im vollen Saal; vorwiegend junge Zuschauer. Nachher zusammen mit Regisseur und drei Hauptdarstellern; diese Leute, im Gegensatz zu den Funktionären, sind begierig auf Informationen. Die Aufführung, seit anderthalb Jahren im Spielplan, ist von offiziöser Seite mißbilligt.
     
    Wahlen in Frankreich, aber man erfährt nichts. Kioske mit ausländischen Zeitungen gibt es nur in den drei oder vier großen Hotels; ich kaufe L'HUMANITÉ und PAESE SERA : sie sind neun und elf Tage alt.
    Reise nach Sibirien bewilligt.
     
    Die Studentin, die nach Gorki gereist ist, taucht wieder auf; sie hat Deutsch im Selbstunterricht erlernt, viel gelesen, ihre Fragen sind genau und klug, somit schwierig. Leider ist Sofija dabei, aber es stört die Studentin überhaupt nicht, wenn Sofija mit einer Miene der Mißbilligung dolmetscht; Sofija ist nicht dumm von Natur, nur geschult: Fragen zu Kierkegaard oder zum Bildnis-Gebot oder zu Pirandello sind in ihrem Raster nicht unterzubringen, der Name Sartre ist nicht genehm. Offenbar hört die Studentin immer wieder, daß ich Eile habe, was aber, wie sie sieht, nicht der Fall ist. Im Gegenteil; man könnte zusammen einen Tee trinken. Aber wo? Natascha (so heißt die Studentin) könnte, auf Taille gekleidet, bei Tschechow vorkommen: eine seiner russischen Seelen, die warten und verkümmern.
     
    Gorki-Institut:
    Germanisten stellen Fragen, bis man sich die Fragen selber stellt, nämlich andere, die einen Schreiber wirklich beschäftigen. Sie lassen sich aber nicht provozieren. Eine Ketzerei, die sie aufmerksam hinnehmen, wird abgefangen mit einem Zitat von Majakowskij. Aber wenn ein heutiger Genosse das sagen würde?
    Nachher Besichtigung des Museums: Dokumente aus dem Leben von Maxim Gorki. Elend des zaristischen Rußland; das erhellt die Revolution mehr als der Vergleich mit dem heutigen Westen; Notwendigkeit dieser Revolution, auch ihrer Grausamkeit.
     
    Rast in einem Park: wenn man Bäumen und Wolken nicht ansieht, wo in der Welt man sich grad befindet – Erholung von einem Spuk. –
     
    Bibliothek für ausländische Literatur. Frauen leiten die verschiedenen Abteilungen. Stichproben im Bezirk meiner Kenntnisse: Kein potjomkinsches Dorf. (So mißtrauisch wird man leider.)
    Bankett in der Schweizerischen Botschaft: drei Literatur-Funktionäre und drei Männer in Ungnade, sie geben einander die Hand; die in Ungnade sind, wirken freier, gelöst. Nur Ljublinow, der in diesen Tagen vernommen hat, daß sein Theater (sie spielen Brecht) geschlossen werden soll, hat Mühe mit der Geselligkeit. Wiedersehen mit Tamara, meiner Übersetzerin. Der melancholische Aksionow; wie ich später vernehme: Liebeskummer. Mein Funktionär: In diesen Räumen fühlen wir uns immer wie zu Haus. Ich komme diesmal nicht um einen Trinkspruch herum; so danke ich denn nicht zuletzt meinem Freund, der aus der Partei

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