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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sein Konflikt mit Lenin, sein Exil nach der Revolution, Maxim Gorki und Stalin, Schriftsteller und Staatsmacht, davon kein Wort. Als ich weggehe aufs vordere Deck, bin ich nicht der einzige, der das Plenum schwänzt; auch Funktionäre finden's langweilig, aber die Firma verlangt das.
     
    Abends wieder Wodka.
    Gespräch mit Christa Wolf und ihrem Mann bis vier Uhr morgens, draußen die helle Nacht über Wolga und Land. Labsal: daß man Widerspruch gelten lassen kann. Lange Zeit saß ein sowjetischer Genosse dabei, der zuhörte, aber mich nichtstörte. Er scheint berichtet zu haben: heute wissen meine Funktionäre, daß es ein sehr interessantes Gespräch gewesen sein soll, das wir geführt haben.
     
    Empfang in Gorki:
    auf der Mole stehen Kinder mit Blumen, Frohsinn in festlichem Weiß mit roten Schleifen, jeder progressive Schriftsteller aus aller Welt bekommt einen Strauß, ich bekomme auch einen, Pfingstrosen, dazu Angina.

Gorki, 20. 6.
    Gestern bei der Ankunft wartet eine russische Studentin, die mündlich-persönlichen Rat sucht für ihr Examen; ein kindliches, etwas zu großes Gesicht mit kugelrunden und sehr hellen Augen. Sie ist von Moskau hierher gekommen. Aufwand ihrer Reise voll Erwartung; ich stehe mit Schüttelfrost und Pfingstrosen. Warum habe ich ihr nicht wenigstens die Pfingstrosen gegeben? Sofija hat sie nach Moskau verwiesen; das Mädchen gehört nicht ins Programm.
     
    21. 6.
    Ich habe jetzt drei russische Mütter: das dicke Zimmermädchen und eine Krankenschwester, die zum Hotel gehört, und dann die Ärztin, die sich aufs Bett setzt und mich beklopft, alle aus Besorgnis zärtlich, ein Zimmer voll molliger Mütter. Keine gemeinsame Sprache. Man wäscht mir den Nacken, und ich brauche nur das Bein zu strecken, um eine Fußwaschung zu haben. Später bringt das Zimmermädchen ein Geschenk: drei russische Puppen. Der Sowjetische Schriftsteller-Verband wird ebenfalls mütterlich; mein Funktionär: Sie verpassen nichts, wenn Sie das Plenum verpassen. Auch Sofijakommt öfter und bringt Grüße. Die lange Geschichte, die das mollige Zimmermädchen erzählt, und ich verstehe kein Wort, aber es verdrießt sie nicht. Herr Wolf bringt Lektüre, SINN UND FORM, ich lese Prosa von Christa Wolf. Ein sowjetischer Kritiker (der bei jenem Nachtgespräch mit Christa Wolf zugehört hat) besucht mich mit einer Frau: beide sehr informiert über die Literatur der kapitalistischen Welt. Plötzlich ein offeneres Gespräch. Ich sollte, so meint er, Novosibirsk sehen, die Stadt der Wissenschaftler, das fortschrittliche Rußland. Er spricht deutsch, sie dagegen spricht englisch; dabei tut er, als verstehe er nicht englisch, sie tut, als verstehe sie nicht deutsch; so spricht sie und so spricht er sozusagen unter vier Augen: nicht offiziös. Sie bleiben lang, ich habe den Eindruck, sie sind froh um diese Stunde abseits des Verbandes. Als Sofija kommt, wird das Gespräch wieder offiziös; ich kann nicht leugnen, daß ich Schluckweh habe, leider.
     
    22. 6.
    Stadtrundfahrt mit dem Oberbaumeister der Stadt Gorki. Es wird viel gebaut, aber ich hätte Fragen. Statt dessen wird dasselbe und nochmals dasselbe gezeigt und nochmals. Ich sehe: Wohnblock neben Wohnblock wie Kisten für Bienen, alles fünfstöckig, eine gigantische Öde. Ich frage: Wie sind Ihre Erfahrungen mit Hochhäusern? Aber ja, aber sicher, aber natürlich: Hochhäuser sehr gut. Warum sehe ich keins? Als Entgegenkommen gestehe ich, daß ich in einem Hochhaus wohne und darin nicht glücklich bin; es bleibt der Verdacht, daß ich, Gast aus dem kapitalistischen Westen, dem Sozialismus wohl keine Hochhäuser zutraue. Also: viele Hochhäuser in der Sowjetunion, aber ja, Hochhäuser sehr viel. Dazwischen ein Werk unseres Oberbaumeisters: eine Schule; er hat's noch immer mit Pilastern und Baalbek-Säulen. Weitere Belehrung: Hochhäuser bieten Vorteil, nämlich mehr freie Sicht bei gleicherWohndichte. Das weiß ich, das ist im Westen auch so, aber ich sage nichts. Wozu! Ein schöner Blick auf die Wolga, während schon am vierten Beispiel erläutert wird, was man seit Jahrzehnten begriffen hat: Vorfabrikation der Elemente. Es ist ärgerlich. Beim ersten Beispiel habe ich genickt, um dem Mann nicht die Freude zu nehmen; beim zweiten Beispiel mit der unveränderten Erläuterung habe ich genickt, um ihm eine dritte Erläuterung zu sparen; beim dritten Beispiel lasse ich durch den Übersetzer daran erinnern, daß ich einmal Architektur studiert habe. Übrigens sind es keine

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