Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Regierungsrat wird zusammen mit den Behörden der Stadt Zürich alle seine Mittel einsetzen, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Die Kantonspolizei ist einsatzbereit.« / NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: »Wehret den Anfängen!« / »Positive Auswirkung des Demonstrationsverbotes.« / »Spielregel der Demokratie.« / »eine winzige Minderheit und eine überwältigende Mehrheit.« / »die Jugendlichen und ihre Hintermänner« / »ihre Drahtzieher im Ausland« / »Eine fehlgeleitete Jugend« / »Die Bewertung der Tatbestände wird den Richtern obliegen, die in voller Unabhängigkeit und unberührt vom Druck der Straße zu urteilen haben.« / »In diesem Zusammenhang verdient festgehalten zu werden, daß in den letzten Tagen von sämtlichen einschlägigen Körperschaften der Verzicht auf ein Referendum gegen die Hochschulvorlage ausgesprochen worden ist.« / »Es ist zu hoffen, daß die Justiz über die Steine- und Flaschenwerfer hinaus zu den geistigen Urhebern der Gewalttaten durchzugreifen vermag, die man mit Namen und Vornamen kennt.« / »Sympathiekundgebungen für die Stadtpolizei. Ein Mädchen brachte eine Tafel Schokolade auf die Hauptwache. Ein Landwirt aus Herrliberg anerbot sich, bei Bedarf sämtliche Landwirte der Umgebung im Kampf gegen die Demonstranten zu mobilisieren. Ein Akademiker wünschte als Passivmitglied im Turnverein der Polizei aufgenommen zu werden. Ein Männerchor aus dem Kreis 4 teilte mit, daß der ganze Verein zu Hilfe eile, wenn dies gewünscht werde. Ein Anrufer versicherte, daß er und seine Metzgerkollegen sich als Freiwillige zur Verfügung stellen würden.«
PS.
Extra-Ausgabe der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 24. 9. 1933 mit Schlagzeile: »Der Fackelzug der vaterländischen Parteien das Opfer eines organisierten marxistischen Überfalls. Nächtliche Kämpfe in den Straßen Zürichs. Sozialdemokraten und Kommunisten provozieren und überfallen den bürgerlichenFackelzug. Steinbombardements. Aufruf zur Ruhe.« Parole der vaterländischen Kundgebung 1933: »In Zeiten der Not gilt es unsere Stadt einem klassenkämpferischen und nur auf das eigene Wohl bedachten sozialdemokratischen Klüngel zu entreißen.« Sprecher in der Kundgebung: Niklaus Rappold, FREISINN, Robert Tobler, NATIONALE FRONT, die mit Hitler sympathisierte. »Der Kampf um ein vaterländisches Zürich.«
Reminiszenz
1936, als ich eine Studentin aus Berlin, Jüdin, heiraten wollte und im Stadthaus Zürich die erforderlichen Papiere abholte (Geburtsurkunde, Heimatschein usw.), erhielt ich unverlangt einen amtlichen Arier-Ausweis mit dem Stempel der Vaterstadt. Leider habe ich das Dokument damals auf der Stelle zerrissen. Die Schweiz war nicht von Hitler besetzt; sie war, was sie heute ist: unabhängig, neutral, frei usw.
Handbuch für Mitglieder
Der Gezeichnete sieht mehr begehrenswerte Frauen als früher. Dabei wechselt er den Gegenstand seines Entzückens mehrmals am Tag. Er ist nicht mehr auf einen bestimmten Typ beschränkt. Neigung zum Panerotischen. (Frühes bis spätes Stadium.) Die Anzahl der Frauen, die ihn entzücken, verhält sich reziprok zu seinen realen Chancen.
Der Vor-Gezeichnete erkennt sich daran, daß er auch Frauen zu gefallen wünscht, die ihm eigentlich nicht gefallen, und daß er sich auf seine Erfolge einläßt – mindestens bis er die Gewißheit zu haben meint, daß seine Männlichkeit angenommen würde.
Es kommt zum Beischlaf bloß um der Bestätigung willen, daß er kein Gezeichneter ist; er weiß im voraus, daß es eine dumme Geschichte ist, aber sie mußte sein –
Der Vor-Gezeichnete, wenn er sich wirklich nochmals verliebt: rücksichtslos gegen alles, was sich der Erfüllung widersetzt – er kann sich das Wunder nicht versagen …
Der Gezeichnete versteht nicht, daß diese Wesen einmal so wichtig gewesen sind. Trotzdem schaut er jede an, ärgert sich über seine Obsession: er kann kaum noch eine junge Frau sehen, ohne wenigstens einen Augenblick lang zu denken, wie es wäre –
Sehnsucht nach der Begierde …
Dabei hat der Gezeichnete lange Zeiten, wo ihn Beischlaf überhaupt nicht interessiert; mehr als das: er findet das (wenn er trotzdem daran denkt) einen absurden Akt.
Der Gezeichnete ertappt sich dabei, daß er sich in Filmen, wenn es zur Umarmung kommt, besonders langweilt; er findet diese Stellen immer zu lang –
In Gesellschaft entwickelt er vor allem jungen Frauen gegenüber eine Artigkeit,
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