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Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Tagebuch aus der Hölle (German Edition)

Titel: Tagebuch aus der Hölle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Thomas
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Oblivion – Vergessen.
    Caroline ist, wie ich erst im diffusen Tageslicht richtig sehen konnte, sehr klein und ein bisschen übergewichtig. Ihr Gesicht ist verhärmt und von Schmerzen gezeichnet, aber man kann erkennen, dass sie in einer freundlicheren Umgebung ziemlich attraktiv gewesen wäre. Heute Morgen – wobei Morgen ein sehr subjektiver Begriff ist, da es hier weder Tag noch Nacht gibt – ärgerte sie sich darüber, dass sie ihr verknotetes rotes Haar nicht waschen konnte. Darauf schien sie sich am meisten zu freuen: Wenn wir Oblivion erreichten, wird es endlich Wasser geben. »Es wächst nicht mehr über die Länge hinaus, die es hatte, als ich gestorben bin«, erzählte sie. »Ich kann mir alles abrasieren, und in ein paar Wochen ist es wieder nachgewachsen, aber es wächst nie länger, als es vorher war. Mit meinen Nägeln ist es genauso. Dir ist sicher auch schon aufgefallen, dass du dich nicht rasieren musst.«
    »Ja.«
    »Und ich habe meine Tätowierung noch.« Letzte Nacht war mir aufgefallen, dass sie eine Hummel auf dem rechten Schulterblatt trägt: Sie hat sie mit 26 stechen lassen, da war sie betrunken gewesen. »Astral-Tinte, schätze ich.«
    Wir wanderten in einen weiteren Wald hinein, der jedoch nicht so dicht war wie der, durch den ich auf meinem Weg zum Vulkan gelaufen war. Durch diesen führte ein breiter Feldweg, dem wir folgten, wobei wir stets die Augen nach Dämonen und Engeln offen hielten. Außerdem trugen die Bäume in diesem Wald Blätter, die wie Eichenblätter aussahen, und einige Stämme waren so dick und faltig wie Dinosaurierbeine; der andere Wald hatte dagegen aus immergrünen Nadelbäumen bestanden. Oder besser gesagt: immervioletten. Sämtliche Bäume hier trugen ebenfalls violette Blätter, und auch das Gras und die Büsche, die den Pfad säumten, waren dunkelviolett, einige von ihnen grenzten ans Tiefblaue, während andere schon beinahe schwarz schimmerten.
    Während wir dem Weg folgten, fragte Caroline: »Also, wie bist du gestorben?«
    Ohne sie anzuschauen, antwortete ich: »Selbst zugefügte Schusswunde.«
    Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie mich musterte. »Wie alt warst du?«
    »33.«
    »Warum hast du das gemacht?«
    »Ich dachte, ich hätte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt.«
    »Und warum hast du das gedacht?«
    Ich zögerte. »Ich wollte ein Schriftsteller sein. Ein großer amerikanischer Romancier. Das lief aber nicht besonders gut …«
    »Und deshalb hast du …?«
    »Und«, unterbrach ich sie, »ich hatte einen Job, den ich hasste, und das Geld reichte hinten und vorne nicht, um meine Rechnungen zu bezahlen. Und meine Frau hat sich in einen Kollegen verliebt. Sie hatte eine Affäre mit ihm. Sie hat mich seinetwegen verlassen …«
    »Oh. Wow. Tut mir leid.« Sie verdaute erst alles, bevor sie mich fragte: »Hattet ihr Kinder?«
    »Wir hatten eine Fehlgeburt. Ein Jahr, bevor sie mich verließ.«
    »Liebst du sie immer noch?«
    »Ich bin … mir nicht sicher.« Das entsprach der Wahrheit. »Ich schätze, ich bin zu beschäftigt damit, in der Hölle zu sein, um noch zu wissen, was ich für sie empfinde.«
    »Tut mir leid.« Caroline legte mitfühlend eine Hand auf meine Schulter, während wir weitergingen.
    Ihre Freundlichkeit rührte mich so sehr, dass sich mir die Kehle zusammenschnürte. Die einzig wahre Freiheit, die wir hier besitzen, ist, dass wir zu anderen freundlich sein können. Wie dieser dunkelhäutige Mann: Er konnte seinen Körper zwar nicht befreien, aber seinen Gefühlen freien Lauf lassen und versuchen, mir zu helfen. Dadurch bleiben wir menschlich – viel mehr als durch diese imitierten Körperrepliken. Das ist etwas, was die Dämonen uns nicht abhacken und nicht verstehen, weil sie es selbst nicht besitzen.
    »Nichts, wofür es sich zu leben lohnt«, wiederholte sie für sich. »Wenn wir doch nur gewusst hätten, wie furchtbar es hier ist. Dass der Tod nicht die ultimative Flucht ist. Ich hatte zwar Angst davor, dass es wirklich kein Leben nach dem Tod gab … entsetzliche Angst sogar … aber ich habe es einfach nicht geschafft, daran zu glauben. Und das hab ich jetzt davon. Es hat sich letztlich doch als real erwiesen. Wenn ich doch nur daran hätte glauben können, dann wäre ich jetzt nicht hier.«
    Im nächsten Moment hörten wir ein schreckliches Geräusch. Wir erstarrten unwillkürlich. Es klang wie das Heulen eines Wolfes, vermischt mit den Schreien einer Frau oder dem Kreischen einer Todesfee.
    »Was ist das?«, flüsterte

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