Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
28.1.2011
Willkommen in der neuen arabischen Welt
Schneller, als ich je zu träumen gewagt hätte, machten sich die Ägypter das tunesische Beispiel zu eigen.
Kairo. Während ich diese Zeilen schreibe, ist Ägypten fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Das Internet ist gekappt, die Handynetze sind unterbrochen. Auf Ägyptens Straßen tobt die Revolte gegen das Mubarak-Regime. Zwei Jahrzehnte arbeite ich in der Region schon als Korrespondent. Die Lieblingsgeschichten der Redaktionen handelten von Al-Kaida und Islamisten. Aber wer spricht dieser Tage noch von Al-Kaida? Selbst Osama Bin Laden und Ayman Al-Zawahiri, die sonst gerne mit bizarren Videobotschaften Ereignisse in der arabischen Welt kommentieren, hat es offenbar die Sprache verschlagen.
In Ägypten begann das Jahr mit einem schlimmen Attentat auf eine koptische Kirche in Alexandria. Der Anruf ereilte mich, als ich auf dem Heimweg von der Silvesterfeier war. Dieses Jahr kann ja heiter werden, dachte ich und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es im arabischen Drehbuch tatsächlich weitergehen würde. Hätte mir jemand erzählt, dass das Mubarak-Regime kurz vor dem Sturz steht und Ben Ali wie ein Dieb bei Nacht aus Tunis flieht, ich hätte ihn wohl ausgelacht. Das ist keinen Monat her.
Vor den Demos am Freitag wurden per SMS lange Listen verschickt, von welchen Moscheen die Proteste losgehen sollten. Auf der Liste standen auch zahlreiche Kirchen. Die Menschen marschieren vereint gegen das verhasste Regime. Diese Atmosphäre war schon ein wenig bei den Protesten nach dem Attentat in Alexandria spürbar, als junge Christen, die auf die Straße gingen, oft von muslimischen Jugendlichen begleitet wurden. Sie hatten schon damals gemeinsam ihren Ärger gegen das Regime gerichtet und ihm vorgeworfen, zwecks Machterhalt einen muslimisch-christlichen Dissens zu schüren. Damals, als die Jugendlichen mit Plakaten, die Halbmond und Kreuz zeigten, „Nieder mit Mubarak!“ riefen, hätte man vielleicht ahnen können, was nur drei Wochen später geschehen würde.
Im Moment wird die politische Landschaft in der arabischen Welt völlig umgepflügt und keiner weiß, welche neuen Pflanzen aus dem Boden sprießen werden. Sie werden sich aber sicherlich nicht mit den alten politischen Kategorien fassen lassen. Die Ereignisse rasen, die Köpfe haben Mühe zu folgen. „Unsere Jugendlichen rennen zehn Schritte voraus, und weder die Politik noch wir Journalisten kommen hinterher“, erklärte mir in Tunis der Chefredakteur einer Tageszeitung. Wie recht er hat.
Die Armee kommt auf die Straße und die Nachbarn organisieren sich in revolutionären Bürgerwehren
Am 28. Januar am frühen Abend kommt es zu einem entscheidenden Wendepunkt in der ägyptischen Revolution. Erstmals kommt das Militär aus den Kasernen auf die Straßen. Die Armee bezieht zunächst Position zwischen den Menschen, die protestieren, und den Polizeikräften. Offensichtlich lautet der Einsatzbefehl, die Polizei abzulösen, aber sich nicht gegen die Demonstranten zu wenden.
Mit dem Abzug der Polizei entsteht aber auch ein Sicherheitsvakuum. Wie bei späteren Untersuchungen herauskam, wurde das Chaos damals vom Regime absichtlich geschürt, auch indem zahlreiche Gefängnisse geöffnet wurden. Neben bewusst entsandten Kleinkriminellen gab es auch zahlreiche Menschen, die die Gunst der Stunde nutzten. Aber bei den Plünderungen der folgenden Tage wurden auch immer wieder an vorderster Front Polizeioffiziere in Zivil erwischt.
Die Rechnung des Regimes war einfach. Jahrelang hatte Mubarak den Menschen eingeschärft, dass er der Garant für Sicherheit, Stabilität und gegen das Chaos sei. Genau diesen Punkt versuchte das Regime nun mit allen Mitteln unter Beweis zu stellen, in der Hoffnung, dass die Menschen dann wieder nach dem starken Mann und seinem Polizeiapparat rufen.
Aber die Rechnung ging nicht auf. Die Ägypter reagierten völlig anders. Praktisch über Nacht organisierten sie sich in revolutionären Nachbarschaftskomitees. Menschen, die sich vorher nicht gekannt oder sich bestenfalls vor ihren Häusern als Nachbarn begrüßt hatten, begannen gemeinsam ihre Straßen gegen die Plünderer zu verteidigen. Oft waren das zunächst recht hilflose Versuche, als etwa der Friseur um die Ecke mit seinem Wäscheständer eine Barrikade errichtete, an dem die Nachbarn eine Straßensperre bemannten. Auch mir persönlich war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass mein 16-jähriger Sohn mit einem Baseballschläger
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