Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
gemeinsam mit anderen jungen Männern die ganze Nacht auf der Straße vor unserem Haus patrouillierte.
Aber am Ende erwies sich das Ganze als relativ effektives System. Innerhalb weniger Tage ließen die Plünderungen nach. Statt nach dem starken Mann zu rufen, hatten sich die Ägypter in praktisch jeder Gasse des Landes das erste Mal selbst organisiert.
ORF ZIB 1, 28.1.2011, 19:30
ORF: Herr El-Gawhary, wie ist denn die Lage im Moment?
Karim El-Gawhary: Die Polizei hat sich im Moment vollkommen aus den Straßen zurückgezogen: Das Militär hat die Polizei nicht verstärkt, sondern ersetzt. Auch vor unserem Büro und vor dem Fernsehgebäude ist die Armee aufgezogen. Die Demonstranten sind trotz Ausgangssperre auf den Straßen, es gibt Szenen der Verbrüderung mit der Armee, die Demonstranten sitzen vor unserem Büro auf den Panzern, vor dem Fernsehgebäude, das in den letzten Minuten von den Demonstranten gestürmt wurde.
ORF: Hat sich die ägyptische Regierung verschätzt, wenn sie meint, mit Militär und Ausgangssperre die Proteste eindämmen zu können?
Karim El-Gawhary: Der Punkt ist, dass wir im Moment gar nicht wissen, wer das Militär geschickt hat, es kann auch sein, dass das Militär sozusagen gegen Mubarak hergekommen ist. Die Verbrüderungsszenen zwischen Militär und Demonstranten sind eigentlich kein Hinweis darauf, dass das Militär im Namen von Mubarak unterwegs ist. Man hat einfach gesehen, die kritische Masse an Demonstranten ist heute so groß geworden, dass die Lage außer Kontrolle geraten ist, und das war der Moment, wo das Militär eingesetzt wurde.
ORF, ZIB 2, 28.1.2011, 22:00
ORF: Wir bleiben in Kairo und schalten noch einmal zu Karim El-Gawhary, er hat neue Informationen.
Karim El-Gawhary: Was wir hier gerade sehen können, wenn ich meinen Kameramann bitte, dass er mal nach hinten zoomt, das ist das Gebäude der Regierungspartei. Dort wurde vor einer Stunde ein Feuer gelegt. Der Brand scheint vollkommen außer Kontrolle zu geraten: Ähnlich wie dieses Gebäude hat man in den letzten Stunden im ganzen Land die Gebäude der Regierungspartei angezündet, nicht nur in Kairo, sondern auch am Suezkanal, im Delta – überall wurden die Büros der Regierungspartei gezielt angegriffen, in Suez auch einige Häuser der Vertreter der Regierungspartei. Es gibt inzwischen Meldungen, dass es am heutigen Tag 13 Tote gab und über 1000 Verletzte. Der Sprecher des Parlaments, Fathi Sorour, hat angekündigt, dass es demnächst eine wichtige Rede geben wird. Er hat allerdings nicht gesagt, wer diese Rede halten wird. Wir haben den ganzen Nachmittag auf eine Rede von Mubarak gewartet, die aber nie gekommen ist. Wir erwarten uns von dieser angekündigten Rede und davon, wer diese Rede hält, die Antwort da-rauf, wer eigentlich im Moment dieses Land regiert, und vor allem, wer das Militär kontrolliert, das im Moment auf der Straße ist.
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29.1.2011
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ORF Radio, Morgenjournal Ö1, 29.1.2011, 07:00
ORF: Guten Morgen, Herr El-Gawhary, wie sieht es denn aus in Kairo, dort ist es etwas später als bei uns, ist die Stadt wach, schläft sie noch, ist es ruhig, gibt es Ausschreitungen?
Karim El-Gawhary: Sie wacht langsam auf, es ist wesentlich mehr Militär auf der Straße als gestern, allein hier vor dem Regierungsgebäude zähle ich im Moment zehn gepanzerte Fahrzeuge, vor dem Gebäude selbst sind sehr viele Soldaten auf der Straße, Teile der Uferstraße am Nil sind blockiert, aber an anderen Stellen, auf den Nilbrücken, läuft der Verkehr wieder ganz normal. Es gibt aber keine Proteste im Moment, man weiß nicht genau, wie es jetzt weitergeht. Das Problem ist, dass sich die Leute heute überhaupt nicht organisieren können. Es gibt immer noch kein Internet, die Handynetzwerke sind immer noch abgeschaltet.
ORF: Mubarak hat noch gestern Abend in einer Rede angekündigt, eine neue Regierung bilden zu wollen. Den Volkszorn scheint er damit nicht besänftigt zu haben.
Karim El-Gawhary: Nach der Rede sind die Menschen sofort wieder auf die Straße gegangen und haben gerufen „Hau ab!“ und „Verschone uns!“. Das war gestern für die Leute hier wie eine Rede von einem anderen Planeten. Er hat gesagt, er will die Regierung auswechseln und die neue heute präsentieren, man kann sich aber schwer vorstellen, wie das weitergehen soll, die ganze Infrastruktur der Regierung hat er ja verloren. Die Zentrale der Regierungspartei brennt zur Stunde immer noch, wobei das benachbarte Ägyptische
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