Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
sie Hunderttausende auf die Straße bringen, also konzentrieren sie sich auf bestimmte Tage, z.B. auf nächsten Freitag. An diesem Tag wollen sie mehr Leute auf der Straße mobilisieren als je zuvor. Unterdessen ist der Tahrir-Platz zu einer festen Institution geworden, dort sitzt ein harter Kern, ansonsten kommen und gehen die Menschen. Jetzt geht es darum, wer den längeren Atem hat. Meine persönliche Einschätzung ist: Selbst wenn das Regime es irgendwann schaffen würde, den Platz zu räumen, hat es noch längst nicht gewonnen. Nach zwei Wochen Protesten und wegen der unterschiedlichsten Menschen, die in dieser Zeit am Tahrir vorbeigekommen sind, ist das Entscheidende nicht mehr das Halten des Platzes. Der Tahrir hat sich längst in den Köpfen der Menschen verselbstständigt. Und das kann ihnen niemand mehr wegnehmen. Das ist der Grund, warum es für das Regime längst kein Zurück mehr gibt.
taz.de, 7.2.2011
„Wir brauchen Brot und Würde“
Die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz ausharren, treiben alle vor sich her, das Regime wie die Opposition. Auf jedes Manöver des Regimes finden sie eine Antwort.
Kairo. Es ist eine Dynamik, der sich derzeit niemand in Ägypten entziehen kann. Der Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt Kairo bestimmt die Tagesordnung. Die jungen Menschen, die dort ausharren, treiben alle vor sich her. Nicht nur das Regime, sondern auch die Opposition. Hatte diese noch am Sonntag versucht, mit dem von Präsident Hosni Mubarak ernannten Vizepräsidenten Omar Suleiman Gespräche zu führen, um sich gegenseitig abzutasten, kam bald das „Nein zu Verhandlungen“ vom Platz.
Die Vertreter der verschiedenen Jugendbewegungen von links bis hin zu den jungen Muslimbrüdern, deren Führung gleichzeitig mit Suleiman am Verhandlungstisch saß, erklärten unisono, bei diesen Gesprächen spreche keiner in ihrem Namen. Ein Verdikt, dem sich die Opposition schnell beugen musste, die sich am Abend für den Verhandlungsversuch mit dem Regime fast entschuldigen musste.
Die Leute auf dem Platz haben eine klare politische Linie: Erst wenn Mubarak geht, sind sie bereit zu sprechen. Das Regime versucht indes, möglichst viel vom alten System in die neue Zeit hinüberzuretten, während Mubarak offiziell noch im Amt ist. Und Teile der Opposition wollen das Spiel mitspielen, um sich selbst einen Platz für die Zeit nach Mubarak zu sichern.
Keine Sprecher, keine Führung
Doch bisher hat sich der Tahrir-Platz nicht instrumentalisieren lassen. Dabei ist es seine Stärke, dass er bisher keine Sprecher und keine politische Führung hervorgebracht hat. Niemand konnte bislang von einer organisierten Opposition vereinnahmt oder vom Regime verhaftet werden.
Das Regime spielt auf Zeit und setzt als Propagandainstrument das mächtige staatliche Fernsehen ein. Es macht die Demonstranten dafür verantwortlich, dass die Ägypter nicht wieder zur Normalität zurückkehren können. Dabei geht es um so existenzielle Dinge wie die Auszahlung der Löhne. Eines der großen Themen, die die Menschen in diesen Tagen bewegen, ist, dass viele nicht wissen, wie sie ihre Familie durch den Monat bringen sollen.
Zugleich hetzt das staatliche Fernsehen offen gegen Ausländer und behauptet, diese hätten die Revolte angezettelt. Man versucht, ein ganzes Land im 24-stündigen Programmtakt gehirnzuwaschen. Dagegen steuern die arabischen Satellitenkanäle mit ihrer Berichterstattung vom Platz. Es ist ein Zermürbungskrieg. Das Regime versucht dabei, jeden gegen jeden auszuspielen: Ägypter gegen Ausländer, Reiche gegen Arme, Stadt gegen Land.
Erst Brot, dann Freiheit
Zu Beginn der Proteste hatten vor allem die Jugendlichen aus den Armenvierteln die Polizei verjagt und von ihren Problemen wie den Preissteigerungen für Lebensmittel gesprochen. Danach waren es sehr viele Ägypter aus der Mittel- und Oberschicht, die sich auf dem Tahrir-Platz versammelten und vor allem politische Freiheiten forderten. Auch diesen Widerspruch hat das Regime auszunutzen versucht. Deswegen ist heute eine neue Parole auf dem Platz aufgetaucht: „Wir brauchen Brot und Würde“, heißt es jetzt.
Wieder einmal hat der Tahrir sensibel auf die Stimmungsmache des Regimes reagiert. Sowohl das Regime als auch die Demonstranten kämpfen heftig um die Gunst der zahlreichen Ägypter, die zu Hause sitzen und sich abwechselnd die Hetze im staatlichen Fernsehen oder die Berichterstattung der Satellitenkanäle vom Platz ansehen. Wie deren Stimmung ist, vermag
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