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Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)

Titel: Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim El-Gawhary
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gegenüber den Amerikanern auf, obwohl er in Wirklichkeit wenig Einfluss habe, schimpft er. Aber auch er glaubt an die Korrektivkraft der Demonstranten.
    In der Runde ist inzwischen ein weiterer junger Mann, Mohammed Fadl, dazugekommen. Er sieht aus wie ein überdimensionaler Teddybär, der Bart gibt ihm einen leicht islamistischen Anstrich.
    Aber Mohammed winkt lächelnd ab. Er sei nicht von Al-Kaida, er komme gerade von der Front und habe keine Zeit gehabt, sich zu rasieren, erzählt er. Ob er keinen Groll gegen die anderen Anwesenden hegt, weil er als Einziger aus der Runde an der Front den Kopf hinhält? Mohammed schüttelt den Kopf. „Es macht keinen Unterschied, ob jemand mit der Waffe in der Hand gegen Gaddafi kämpft oder hier auf dem Platz die Revolution voranbringt. Wir ziehen alle an einem Strang. Jeder und jede hat ihren Platz“, sagt er und blickt auf Essrat.
    Die Frauen waren von Anfang an dabei
    Es sei überhaupt eines der aufregendsten Dinge dieses Aufstands, erwidert sie, dass nämlich die Frauen von Anfang an auf der Straße daran teilgenommen hätten. Bengasi sei eine konservative, sehr stark von Stammestraditionen beeinflusste Stadt. Aber in diesen Tagen hätten sich die Frauen eine neue Rolle in der Öffentlichkeit erkämpft. Dann entschuldigt sie sich in Schweizerdeutsch und geht weg.
    Vom Hafen her zieht eine Frauendemonstration Richtung Gerichtsplatz. Einige der Frauen tragen Uniform. Bengasi ist eine große revolutionäre Baustelle. Gaddafi mag noch in Tripolis herrschen. In Bengasi hat sich nicht nur die Politik verändert, auch die konservative libysche Stammesgesellschaft ist hier im Umbruch.
    Auch Mohammed zieht seines Wegs. Von der anderen Seite kommend, tragen Demonstranten einen Sarg über den Platz: einer der zahlreichen an der Front getöteten Bewohner Bengasis, denen jeden Tag auf dem Gerichtsplatz das letzte Geleit gegeben wird, bevor auch sein Foto an die „Galerie der Märtyrer“, die Außenwand des Gerichts, geklebt wird.
    Zwei Rebellen nehmen ihre Kalaschnikows und schießen ein Magazin zum letzten Salut in die Luft. Mohammed hat sich dem Trauerzug angeschlossen. „Gott ist groß, und Muammar Gaddafi ist sein Feind!“, ruft er mit den anderen, ein für die Situation leicht umgewandeltes islamisches Glaubensbekenntnis.
    Essrat auf der Frauen-, Mohammed auf der Märtyrer-Demonstration – es ist ein bunter Haufen meist junger Leute, der sich jeden Tag vor dem Gerichtsgebäude in Bengasi versammelt. Auch der Rest der Gesprächsrunde löst sich auf. Der Lehrer Mahmud geht wieder in sein Zelt. „Wir mögen sehr unterschiedlich sein, aber in einem sind alle hier gleich“, sagt er. „Wir haben das erste Mal unser Selbstbewusstsein und unsere Würde gefunden.“
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    7. April 2011, 1:02 Ich mache mich wieder auf den Weg von Bengasi nach Kairo.

Der Blick in die arabische Kristallkugel

    Mit dem Pessimismus des Verstandes und dem Optimismus des Willens

    „Wenn in der Republik Saudi-Arabien erstmals eine Präsidentin gewählt wird, gehe ich in Rente.“ Mein Standardspruch auf die Frage, wie es in der arabischen Welt weitergehen wird, ist natürlich ausweichend und nicht ganz ernst gemeint. „Ein Schwamm, um die Vergangenheit wegzuwischen, eine Rose, um die Gegenwart zu versüßen und ein Kuss, um die Zukunft zu grüßen“, lautet ein arabisches Sprichwort. Man kann sie zwar küssend grüßen, aber einen Ausblick auf die zukünftige arabische Welt zu werfen, ist ein verwegenes Unterfangen. Jede der folgenden, bis zum Redaktionsschluss im Juni 2011 geschriebenen Zeilen könnte schon obsolet sein, wenn sie gelesen wird. Jahrzehntelang war die arabische Welt wie ein in der Garage geparktes Auto. Jetzt ist sie erstmals auf einer aufregenden Spritztour unterwegs, und zwar mit den Bürgern auf dem Fahrersitz.
    Einige arabische Länder haben sich von ihren Diktatoren befreit, aber der Streit zwischen jenen, die einen umfassenden Wandel fordern, und jenen, die so viel wie möglich aus der alten Zeit in die neue hinüberretten wollen, ist voll entbrannt. Die Revolution war ohne Frage eine Zäsur, doch die Sicherheitsapparate und die alten Eliten sind noch nicht wirklich abgelöst. Und der neue arabische Pluralismus braucht Zeit, um sich zu organisieren. Vielleicht zu viel Zeit, mit dem Risiko, von den alten Kräften, zumindest zeitweise, doch noch einmal zur Seite gedrückt zu werden.
    In anderen arabischen Ländern wird immer noch darum gekämpft, zunächst einmal die

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