Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
Macht an sich reißen kann. Jahrzehntelang war die wichtigste Marketingstrategie der arabischen Herrscher wie Ben Ali und Mubarak, sich als einzige Alternative zu den Islamisten oder gar der Al-Kaida darzustellen. Doch mit der Revolution kam eine völlig neue, pluralistische arabische Welt zum Vorschein, die sie Lügen strafte.
Viertens: Es wurde erstmals das Prinzip der Rechenschaft eingeführt. Wer immer die Verantwortung für die Länder zugesprochen bekommt, der wird verpflichtet sein, Rechenschaft abzulegen, gegenüber einem gewählten Parlament, gegenüber Gewerkschaften und Berufsverbänden, aber auch gegenüber der Straße. Denn der Tahrir-Platz hat die Menschen erstmals von Untertanen zu freien Bürgern gemacht, die politische Entscheidungen offen hinterfragen.
Diese vier Grundlinien können nicht getrennt betrachtet werden. Natürlich werden die alten Eliten versuchen, in dem Chaos, das durch das politische Vakuum entstanden ist, ihre Privilegien zu verteidigen. Und natürlich könnte in manchen Fällen eine Gruppierung, etwa die Islamisten, wenn schon kein Monopol, so doch eine Marktführerschaft bekommen. Aber genau dann tritt die dritte neue Grundlinie, die der Rechenschaft, in Kraft. Die vermeintlich von Religion und Gott gelenkte Ideologie der Islamisten wird erstmals politisch haftbar gemacht. Mit dem alten Spruch der ägyptischen Muslimbruderschaft allein, „Der Islam ist die Lösung“, und auch mit dem Hinweis auf eine vermeintlich gottgewollte Politik werden sich die Islamisten dieser Haftbarkeit nicht entziehen können.
Ägypten als Modell
Der internationale Fokus wurde nach dem erfolgreichen Aufstand in Ägypten vor allem wegen des NATO-Einsatzes erst einmal auf Libyen und später, wegen der Brutalität des Assad-Regimes, auf Syrien gelenkt. Doch Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land, und es sind die dortigen Entwicklungen, die den restlichen Arabern als Modell und Vorbild gelten.
„Alte Regime sind wie Eis, sie brauchen eine Weile, bis sie in der Sonne wegschmelzen“ – ein Satz, mit dem Ibrahim Eissa, der prominenteste ägyptische Dissidentenjournalist, seine Landsleute dazu aufrief, mit der Revolution und dem politischen Wandel am Nil etwas Geduld zu haben. Nach dem Rücktritt Mubaraks schien eine regelrechte Hitzewelle Kairo fest im Griff zu haben, nicht nur klimatisch, sondern auch politisch. Das Eis, das das Land in drei Jahrzehnten der Herrschaft des gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak in Froststarre versetzt hatte, schmolz zunächst schneller als erwartet.
Ein noch im Jahr 2010 ins Leben gerufenes Parlament, in dem sich Mubaraks Regierungspartei NDP durch massiven Wahlbetrug die absolute Mehrheit erschlichen hatte, wurde innerhalb weniger Tag aufgelöst. Dem folgte der Rücktritt der von Mubarak ernannten Regierung. Später landeten Mubaraks beide Söhne Gamal und Alaa in Kairo in Untersuchungshaft. Gegen sie ermittelte die Staatsanwaltschaft ebenso wie gegen Mubarak selbst, der, wie viele vermuteten, mit „Herzproblemen“ ins Krankenhaus geflüchtet war. Wenige Tage darauf gab es Jubelszenen in Ägyptens oberstem Verwaltungsgericht, als die Richter die Auflösung der vormaligen Regierungspartei verkündeten und deren Guthaben konfisziert wurde. Laut dem Parteiengesetz sollten Parteien zur Demokratisierung und nationalen Einheit aufrufen, die NDP habe aber die Macht monopolisiert, soziale Spaltung provoziert und die Freiheitsrechte der Verfassung missachtet, heißt es in dem Gerichtsurteil, das zur Auflösung führte.
Der Diktator in U-Haft, dessen wichtigstes Instrument, die NDP, aufgelöst: Zwei Monate nach dem Sturz des Diktators marschierte die ägyptische Revolution in großen Schritten voran. Die Facebook-Seite der Staatsanwaltschaft war wochenlang die wichtigste Informationsquelle, weil man dort jeden Morgen lesen konnte, gegen welchen einstigen Minister, Parlamentarier oder regimetreuen Geschäftsmann nun ein Verfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauch eingeleitet wurde.
Was eine angemessene Strafe für Mubarak betrifft, gefällt mir ein getwitterter Vorschlag bisher am besten: Mubarak sollte zur Behandlung ins städtische Krankenhaus der Nildelta-Stadt Tanta geschickt werden. So könnte er die Auswirkungen seines 30 Jahre lang vernachlässigten Gesundheitssystems am eigene Leibe zu spüren bekommen. Staatliche und städtische Krankenhäuser gelten unter den Ägyptern als Todesfallen.
Die Militärführung billigte diese Abrechnung mit dem alten
Weitere Kostenlose Bücher