Tagebuch der arabischen Revolution (German Edition)
Verantwortlichen fragt er gereizt, warum eine andere Straßensperre im Süden Adschdabiyas völlig verwaist sei. Frisch rasiert, in gebügelter Uniform und mit seinem zackigen Auftreten sticht der Offizier unter den abgerissen wirkenden Truppen an der Straßensperre heraus. Ihm fehlen auch die revolutionären Accessoires wie die schwarz-rot-grünen Stirnbänder oder das zerzauste Che-Guevara-Haar, die die jungen Freiwilligen schmücken.
Der Offizier steht für den Versuch der Rebellen, im militärischen Chaos eine Art Kommandostruktur aufzubauen, bei der man sich auch Gedanken über Taktik, Sicherung der eroberten Gebiete und verschiedene Angriffsmöglichkeiten macht. Diese Initiative hatte der Nationalrat in Bengasi, die Übergangsregierung der Aufständischen, vor ein paar Tagen offiziell angekündigt. Bisher waren die Rebellen auf ihren Pritschenwagen einfach nur immer die Küstenstraße entlanggefahren, bis sie unter Beschuss der wesentlich besser ausgebildeten und ausgerüsteten Gegner gerieten. Entweder fuhren sie dann todesmutig weiter in den Hinterhalt oder legten panisch den Rückwärtsgang ein.
Der Offizier schreit den Leuten an der Straßensperre noch ein paar Anweisungen zu, die diese mürrisch entgegennehmen. Dann fährt er weiter Richtung Front. Dort wartet mehr Arbeit auf ihn. Der kurze, unrevolutionäre Wirbelsturm ist vorbeigezogen. Leicht befremdet blicken die Männer ihm hinterher.
taz.de, 11.4.2011
Der Traum von einem anderen Libyen
In Bengasi hat sich nicht nur die Politik verändert. Auch die konservative Stammesgesellschaft ist im Umbruch. „Es ist ein Aufatmen“, sagt ein Lehrer.
Bengasi. „Wir Libyer sind politisch ein vollkommen unbeschriebenes Blatt“, meint der junge Lehrer Mahmud Buschaal. Das habe Vor- und Nachteile. „Natürlich sind wir nicht politisch organisiert und ein wenig unbedarft, aber bei einem weißen Bogen Papier hat man alle Möglichkeiten, ihn vollzuschreiben.“
Während er das sagt, sitzt er, eingewickelt in eine der rot-schwarz-grünen Fahnen der Rebellen, vor seinem Zelt am Gerichtsplatz in Bengasi. Ähnlich wie der Tahrir-Platz in Kairo hat sich der Gerichtsplatz in den vergangenen Wochen zum politischen Zentrum der Aufständischen entwickelt. Um den revolutionären Flair zu unterstützen, hat Mahmud eine Baskenmütze über den Kopf gezogen, der Gesamteindruck wird mit einer coolen Sonnenbrille unterstützt, die ihn mittags vor der libyschen Frühlingssonne schützt.
Der Lehrer hat geschworen, so lange in seinem Zelt auf dem Gerichtsplatz auszuharren, bis Muammar Al-Gaddafi als Diktator in diesem Land nirgends mehr sein Zelt aufschlagen kann. Mahmud grinst. Eine Gruppe von vier anderen jungen Revolutionären lacht. Sie alle haben sich in einem Kreis von Plastikstühlen direkt an der Uferpromenade des Mittelmeers zusammengefunden, um zu erzählen, was die libysche Revolution für sie persönlich bedeutet.
„Das ist eine Revolution aus unserem Herzen, ein offener Karneval, um den Albtraum Gaddafi endlich loszuwerden“, führt Mahmud weiter aus. „Es ist ein Aufatmen. Völlig frei wie hier reden zu können, zum Beispiel mit dir als Journalisten. Etwas, das zu Zeiten von Gaddafis Herrschaft über Bengasi völlig unmöglich war.“ Die anderen nicken zustimmend.
Vor Freude geweint
Auch Essrat Betmaar schildert das Ganze als ein Fest. Die ersten Tage habe sie immer wieder vor Freude geweint, erinnert sich die junge Lehrerin. „Endlich ist es vorbei, dass man als Libyer im Ausland mit dem System Gaddafi gleichgesetzt wird“, sagt sie, die mehrere Jahre in der Schweiz gelebt hat.
Ob sie nicht Angst haben, dass ihnen die Revolution weggenommen wird? Schließlich sitzen im Nationalrat, der Führung der Rebellen, auch ehemalige Vertreter des Gaddafi-Regimes. Sie überlegen eine Weile. Der Nationalrat sei nur vorübergehend im Amt. Wenn ganz Libyen frei sei, würden Wahlen durchgeführt, sagt Mahmud. „Und wenn den Jugendlichen irgendetwas nicht passt, dann gehen sie eben wieder auf die Straße“, meint der junge Beamte Musadaq Saleh. In Zukunft soll es heißen: „Vier Jahre Präsident, und dann tschüss.“ Wieder lachen die anderen in der Runde.
Später, etwas abseits, schlägt ein anderer junger Mann doch auch etwas kritischere Töne an: „Der Nationalrat ist zu undurchsichtig“, beschwert sich Ahmad Scharif, der beim neuen Fernsehsender der Rebellen, Libya, arbeitet. Natürlich gebe es dort Vertreter des alten Regimes, und so mancher spiele sich
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